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Bildung kann es ohne Disziplin, Anstrengung und Fleiß nicht geben – doch wenn Schüler scheitern, ist der Lehrer schuld

BERLIN. Lehrerinnen und Lehrer sind zunehmend verunsichert. Kein Wunder, wird von ihnen doch Unmögliches verlangt: Der Lehrer soll lehren und Wissen vermitteln, ohne dass es den Schüler anstrengt. Der Lehrer soll seine Klasse als Respektsperson führen, soll gleichzeitig aber auch Coach und Lernbegleiter sein. Der Lehrer soll für klare Regeln im Klassenzimmer sorgen, aber auch Verständnis aufbringen, wenn ein Schüler diese nicht respektiert. Gleichzeitig hat er dafür zu sorgen, dass die Leistungen der Schüler stimmen, dass sie motiviert sind, dass sich soziale Unterschiede möglichst ausgleichen. Das alles ist eine „überzogene Erwartungshaltung“, so stellen Bernd Saur, Vorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg, und Katja Kranich, Schulleiterin des Stromberg-Gymnasiums in Vaihingen/Enz, in ihrem gemeinsamen Gastbeitrag fest. Sie fordern darin eine gesellschaftliche Rückbesinnung auf die Kernaufgaben von Schule.

Sisyphos-Darstellung von Tizian von 1548. Foto: Wikimedia Commons

Ist das staatliche Schulsystem überholt? Eine provokative Betrachtung

„Viele Lehrkräfte sagen mir, dass sie durchaus dankbar wären, wenn man ihnen einmal sagte, was man genau von ihnen erwartet.“ So äußerte sich die baden-württembergische Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann Ende 2017 in einem Interview des Spiegel (Nr. 45/4.11.2017, hier kostenpflichtig herunterladbar). Was auf den ersten Blick angesichts  verpflichtender Bildungspläne verwundern und irritieren mag, erschließt sich einem bei näherer Betrachtung durchaus als bedenkenswert. Aus dieser Äußerung der Kultusministerin spricht eine tiefe Verunsicherung gerade jener Zunft, für die das Lehren und die Wissenshoheit der Kern ihrer Profession sein sollte.

Aber weshalb ist die Erwartungshaltung an das Schulsystem und die Lehrkräfte so disparat und unklar geworden? Die allermeisten Lehrer an unseren staatlichen Schulen sind Beamte. Sie erfüllen für den Staat eine hoheitliche Aufgabe, den gesetzlich verankerten Erziehungs- und Bildungsauftrag. Und weil dies vom Staat als eine hoheitliche Aufgabe verstanden wird, stehen Lehrer ebenso wie Finanzbeamte, Polizisten und andere staatliche Funktionsträger in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat. Sie haben dem Staat mit voller Hingabe zu dienen, wie es die sogenannten althergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums vorsehen. In der Landesverfassung von Baden-Württemberg ist der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag verbindlich definiert. Der Bildungsplan gibt die Inhalte inklusive sogenannter Leitperspektiven vor. Man sollte also meinen, dass damit Aufgabe und Auftrag von Lehrkräften klar umrissen sind und daher die Erwartungshaltung unseren Lehrkräften gegenüber eigentlich eindeutig sein müsste. Die in Frau Eisenmanns Zitat zum Ausdruck kommende Verunsicherung kann also jedenfalls nicht systemimmanent bedingt sein.

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Es kann sich also nur um die Anspruchshaltung handeln, die von außen an die Schulen herangetragen wird. Wie immer der vielfältige Spagat der Lehrerschaft derzeit auch aussehen mag, um diesen diversen Ansprüchen gerecht zu werden, niveaufördernd scheint er nicht zu wirken. Die letzten IQB-Ergebnisse belegen, dass das Bildungsniveau an unseren Schulen sinkt und dass unsere staatlichen Bildungseinrichtungen trotz aller Bemühungen den an sie gestellten Anforderungen offenbar nicht mehr gerecht werden können.

Doch beschränkt sich offensichtlich der Leistungsabfall nicht auf die Schule. So scheitern zum Beispiel laut SWR3 und verschiedenen Presseberichten vom Mai 2018 bei den Führerscheinprüfungen zunehmend mehr Fahranfänger. Im Südwesten scheitere inzwischen jeder dritte Fahranfänger bei der Theorieprüfung und jeder vierte beim Praxistest. Seit 2014 steige die Durchfallquote stetig (Vaihinger Kreis-zeitung, 5.5.2018). Interessanterweise sind die Gründe für den Fahrlehrerverband offensichtlich. Ein Grund, den der Chef des Fahrlehrerverbandes von Baden-Württemberg, Jochen Klima, benennt, ist der Umstand, dass der Führerschein bei den Jugendlichen nicht mehr denselben Stellenwert habe wie früher. Diese Erklärung ist sehr bemerkenswert. Denn analog zur schulischen Situation würde man erwarten, dass in der Konsequenz dieser sich verschlechternden Quote die Ausbildung der Fahrschüler hinterfragt werden würde bzw. die Qualität des Unterrichts der Fahrlehrer. Dies ist aber mitnichten der Fall. Nicht der Unterricht oder die Prüfungsmodalitäten seien das Problem, sondern die Haltung der Jugendlichen.

Da drängt sich unweigerlich die folgende Frage auf: Weshalb erfolgen die Ursachenzuschreibungen für sich verschlechternde Leistungen von Jugendlichen so unterschiedlich?

Man stelle sich vor, dass die Kultusministerin verkündet, das Schulsystem in Baden-Württemberg habe sich über Jahrzehnte hinweg bestens bewährt. Wenn die Leistungen der Schüler nun stetig schlechter werden, dann liege das vor allem daran, dass sich unsere Gesellschaft und die darin gelebte Haltung zur Schule massiv geändert habe, aber nicht daran, dass die Qualität des Unterrichts gesunken sei. Lässt man sich einen Moment auf dieses Gedankenspiel ein, so würde sich der erhobene Zeigefinger nicht mehr gegen scheinbar unqualifizierte Lehrer und ineffizienten Unterricht richten, sondern gegen Familien, in denen Schule nicht mehr oberste Priorität im Alltag der Kinder hat. Er würde einer Elterngeneration gelten, die sehr viel Zeit für ihren eigenen Lifestyle aufbringt. Er würde auf Familien abzielen, in denen sehr viele Kinder emotional auf sich allein gestellt sind und dem Erwartungs- druck ihrer Eltern standhalten müssen. Er würde Eltern meinen, die vielfach keine Mühe und Anstrengung scheuen, belastende Faktoren und jedwede Anstrengung von ihren Kindern fernzuhalten mit dem Ergebnis, dass derzeit eine Generation von Kindern heranwächst, die spürbar weniger belastbar ist. Der erhobene Zeigefinger würde sich gegen Interessensvertreter von Industrie und Handwerk richten, die die Schule zunehmend in der Pflicht sehen, Defizite, die Jugendliche bezogen auf ihr Alltagswissen und ihre Alltagstauglichkeit mitbringen, zu kompensieren. Er würde den Smartphones gelten, deren Chats die Aufmerksamkeit und Emotionen der Jugendlichen binden und die für das Lernen so wichtige Konzentrationsfähigkeit systematisch torpedieren.

Gesamtgesellschaftliche Probleme

Schule ist ein Brennglas der aktuellen gesellschaftlichen Realität und damit des aktuell vorherrschenden Zeitgeistes. Das heißt konkret, dass Probleme in der Schule gesamtgesellschaftliche Probleme widerspiegeln. Wenn die Kultusministerin im selben Interview davon spricht, dass die Schülerschaft heterogener geworden ist, dann liegt das nicht ausschließlich am Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung unter der grün-roten Landesregierung von Baden-Württemberg, dann liegt das auch daran, dass unsere Gesellschaft zunehmend und mit beachtlicher Dynamik diffundiert und sich diversifiziert. Die individuellen Ansprüche steigen ebenso wie der Anspruch, persönliche Bedürfnisse möglichst unmittelbar zu befriedigen – und die Digitalisierung leistet dieser Entwicklung Vorschub. Individualisierte Arbeitszeitmodelle zeugen hiervon ebenso wie Internetbanking, Onlineshopping, die Nutzung sozialer Netzwerke und vieles andere mehr. Wir sind längst einer Wischkultur verfallen, in der allenfalls oberflächliches Interesse kurzzeitig gebunden werden kann. Eine vertiefte und differenzierte Auseinandersetzung mit einer Sache, in der gut Ding Weile hat, findet nur noch schwerlich Akzeptanz. Dieser vorgelebte individualistisch-hedonistische Egozentrismus färbt selbstverständlich ganz automatisch auf die in unserer Gesellschaft Heranwachsenden ab. Auch wird von Eltern die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird, zunehmend in Frage gestellt. Dies ist zumindest bei akademisch gebildeten Elternhäusern am Gymnasium ein Trend. Die Unterrichtenden stehen damit immer öfter unter dem Zwang, sich zu rechtfertigen, warum es Bildung ohne Konzentration, Anstrengung, Fleiß und (Selbst-)Disziplin nicht geben kann. Der Lehrer soll heute als Lernbegleiter die Selbststeuerung des Schülers so sanft wie möglich anstoßen, auf keinen Fall soll er instruieren oder gar dozieren. Der Lehrer soll lehren und Wissen vermitteln, ohne dass es den Schüler anstrengt. Der Lehrer soll seine Klasse mit einer natürlichen Autorität als Respektsperson führen, soll gleichzeitig aber auch Coach und Lernbegleiter sein. Der Lehrer soll für klare Regeln im Klassenzimmer sorgen, aber auch Verständnis aufbringen, wenn ein Schüler selbige nicht respektiert. Und strafen soll er überhaupt nicht. Strafen wird als pädagogische Bankrotterklärung gebrandmarkt. Wenn eine Lehrkraft dies nötig hat, dann hat sie den Beruf verfehlt. Der Lehrer hat dafür Sorge zu tragen, dass gelernt wird ohne Druck aufzubauen. Der Lehrer soll für Abwechslung bei der Vermittlung des Lernstoffes sorgen und sich außerunterrichtlich engagieren, also zum Beispiel mit seiner Klasse ins Schulland- heim und mit seinem Kurs auf Studienfahrt gehen, ohne dass an der Schule für seine anderen Schüler der Unterricht ausfällt. Und spätestens an dieser Stelle wird nachvollziehbar, was Lehrkräfte meinen, wenn sie unserer Kultusministerin sagen, dass sie dankbar wären, wenn man ihnen einmal sagte, was man genau von ihnen erwartet.

Umstrukturierungen institutioneller Art wie die derzeit in Baden-Württemberg anstehende Schaffung zweier neuer Institute, dem „Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung“ (ZSL) und dem „Institut für Bildungsanalysen“ (IBBW) im Rahmen des sogenannten Qualitätskonzepts werden wahrscheinlich ebenso wenig Effekte auf Art und Qualität des Unterrichts zeitigen wie der verzweifelte Versuch, dem Ruf der Wirtschaft nach mehr Lebensweltbezug gerecht zu werden, indem man im Hauruckverfahren Informatik bzw. IMP einführt, ohne dass die dafür notwendigen Lehrkräfte zur Verfügung stünden. Und ob der neue Leitfaden für die berufliche Bildung in der Oberstufe, der auf den Vorwurf hin erstellt wurde, die Schulen würden die Schüler unzureichend über die Bildungsangebote nach dem Abitur informieren, die Studienabbrecherquote wirklich verringern wird, bleibt abzuwarten.

Die Schule soll und muss in immer kürzerer Zeit kompensieren, was eine höchst dynamisch sich verändernde Gesellschaft mit neuen Lebensformen und Wertehaltungen nicht mehr zu leisten vermag. Das Kernproblem der Lehrkräfte an den Schulen sind die völlig diffusen, ja teilweise widersprüchlichen Anforderungen, die eine moderne, pluralistische und immer komplexer werdende Gesellschaft, Arbeitswelt und Elternschaft an die Schulen stellt. In diesem Spannungsfeld zwischen staatlichem Bildungsauftrag einerseits, und den verschiedensten Erwartungshaltungen von Eltern, Betrieben, Unternehmen und Hochschulen als zukünftige Wirkungsstätten der Schüler andererseits, haben sich unsere Bildungseinrichtungen zu behaupten und zu bewähren.

Vor diesem Hintergrund mag sich ein vages Gefühl einstellen, dass weder ein verändertes Konzept der Lehrerfortbildung noch ein alternatives Classroom-Management noch der Informatikunterricht ab Klasse 7 den Niveauabfall an den Schulen wirklich aufhalten wird. Das einzige, was den Schulen helfen würde, die Qualität des Lehrens und Lernens wieder zu steigern, wäre ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Schule mit ihrem klaren Bildungsauftrag nicht permanent in Frage gestellt wird und vor allem die Grenzen des Machbaren akzeptiert werden. Das heißt konkret, dass wir in unserem gesellschaftlichen Machbarkeitswahn keine diffusen Erwartungen an Schulen stellen dürfen, mit der der Lehrerschaft quasi automatisch Inkompetenz unterstellt wird, wenn diese den individuell verschiedenen Anforderungen nicht nachkommt, weil sie ihnen gar nicht nachkommen kann. Diese überzogene Erwartungshaltung überträgt sich zwangsläufig auf die Kinder. Was diese diffundierende Gesellschaft bräuchte, wäre die Erkenntnis und das klare Bekenntnis dazu, dass schulische Bildung immer nur einen Teilbeitrag zu einer gelingenden (Bildungs-)Biografie leisten kann, weder als Ersatz noch als Kompensation für Erziehung bzw. Nichterziehung im Elternhaus, immer nur in Ergänzung und als Erziehungspartner der Eltern. Es wäre das Bekenntnis zu einer Schule, die mit ihrem klassischen Bildungs- und Erziehungsauftrag unsere Gesellschaft zusammenhält und damit auch als Garant für den Werteerhalt in unserer Kulturnation wirkt.

An der Grenze des Leistbaren

Wer nun meint, dass auch die Schule sich dem Zeitgeist der Individualisierung und Partikularisierung von persönlichen Interessen, Zielen, Strategien und Lebensansichten zu beugen habe, dem sei gesagt, dass das staatliche Schulsystem, so wie es derzeit von den strukturellen und personellen Rahmenbedingungen her aufgestellt ist, an einer deutlichen Grenze des Leistbaren angelangt ist. Vielleicht sollten wir uns an dieser Stelle die Frage stellen, ob wir das Schulsystem, so wie es die letzten knapp 200 Jahre gewachsen ist, nicht für eine umfassende Privatisierung und damit eine Art Komplett-Individualisierung zur Disposition stellen könnten bzw. sollten.

Sollte nicht der staatlich getragene und verantwortete, aber immer stärker hinterfragte und kritisierte Bildungskonsens konsequenterweise aufgehoben werden zugunsten vielfältigster Schulprofile mit unterschiedlichsten Ausrichtungen und Anforderungen? Und sollte nicht auch die Einheitlichkeit von Bildungsabschlüssen einmal in Frage gestellt werden in Zeiten, da Firmen via „assessment center“ ihr Personal rekrutieren und nicht mehr so sehr auf die Abschlussnote schauen? Angesichts der Nicht-Vergleichbarkeit der Abiturnoten in Deutschland ist eine Einheitlichkeit ohnehin nicht gegeben – von Fairness ganz zu schweigen.

Wer das einigende Band staatlicher Verantwortung nicht mehr akzeptiert, weil er meint, es usurpiere in übergriffigem Geltungsanspruch die eigenen partikularen Erwartungen, der wäre doch mit einem facettenreichen Privatschulangebot bedeutend besser bedient. Man sucht sich das aus, was man seinem Kind angedeihen lassen möchte: von Laissez-faire bis hin zu klarer und hoher Leistungs- erwartung, von totaler Freiarbeit mit selbstorganisiertem Lernen und Lernbegleitern bis zu dem, was man heutzutage zeitgeistkonform und gerne abwertend als traditionellen Unterricht bezeichnet.

Wäre dies ein gangbarer Weg aus dem Schuldilemma? Mit dieser Lösungsvariante ist keine Wertung verbunden, vielmehr soll eine Alternative aufgezeigt werden, eine Alternative zu einem staatlichen Schulsystem, das an seine Belastungsgrenze gekommen ist und Gefahr läuft, den Stresstest der nächsten Generation nicht zu bestehen. Oder wird sich unsere Gesellschaft besinnen können und endlich anerkennen, was Schule de facto leistet und was Schule uns allen wert sein sollte. So sehr dies zu wünschen wäre, so wenig dürfte es ernsthaft zu erwarten sein.

Die Autoren

Katja Kranich ist Gymnasiallehrerin für Deutsch, Geschichte und Ethik – und seit 2014 Schulleiterin am  Vaihinger Gymnasium. Gegenseitige Wertschätzung und das Miteinander an der Schule seien ihr wichtig, so erklärte die Oberstudiendirektorin der Vaihinger Kreiszeitung anlässlich ihrer Berufung zur Schulleiterin. „Neben all den gymnasialen Bildungsansprüchen, die ich natürlich auch vertrete und hinter denen ich stehe.“

Bernd Saur ist seit 2008 Vorsitzender des Philologenverbandes Baden-Württemberg, er ist Fachberater für Englisch am Regierungspräsidium Tübingen und unterrichtet am Albert-Einstein-Gymnasium in Ulm-Wiblingen die Fächer Englisch und Französisch.

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