BERLIN. Die Inklusion ist heiß umstritten. Über die Hälfte der Lehrkräfte in Deutschland, 54 Prozent, sprachen sich im vergangenen Jahr in einer vom VBE initiierten Umfrage für den gemeinsamen Unterricht aus – trotz der schlechten Bedingungen. Andersherum: Immerhin 42 Prozent der Lehrer hielten es danach auch im Falle angemessener finanzieller und personeller Rahmenbedingungen für sinnvoller, wenn Kinder mit einer Behinderung in speziellen Förderschulen unterrichtet werden. (News4teachers berichtete) Nicht selten wird das mit grundsätzlichen Einwänden begründet – und die nimmt sich unser Gastautor Prof. Hans Wocken in einer dreiteiligen Streitschrift vor. Im 1 Teil widmete er sich der Behauptung, „Inklusion ist eine Gleichheitsreligion“. Jetzt, im 2. Teil, geht es um den angeblichen “Einheitsunterricht für alle”.
„Inklusion ist Kommunismus für Schulen!“
2. „Inklusion bedeutet Einheitsunterricht für alle!“
Inklusiver Unterricht und Inklusive Didaktik sind Themen, die von den Inklusionsopponenten recht selten artikuliert werden, Unterricht und Didaktik sind eher No-Go-Themen. Auf die Frage: „Welche didaktischen Konzeptionen empfehlen Sie für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen?“ hat der Inklusionskritiker Bernd Ahrbeck mit entwaffnender Ehrlichkeit geantwortet: „Zu diesem Thema kann ich keine Empfehlung geben, ich bin kein Spezialist dafür“ (in: Müller u.a. 2018, 249).
Ungeachtet des offenkundigen Desinteresses an Unterricht und Didaktik haben die Inklusionsgegner und -kritiker dennoch eine entschiedene, fest gefügte Meinung darüber. Ihr unerschütterliches Urteil über einen inklusiven Unterricht bringen sie unablässig und dezidiert mit einer einzigen verächtlichen Aussage zum Ausdruck: „Inklusion bedeutet Einheitsunterricht für alle!“ Felten nennt diesen „Einheitsunterricht“ in einer „Einheitsschule“ ungeschminkt so, wie er auch in anonymen Internetforen oder in den Lehrerzimmern der höheren Schulen traktiert wird: „Einheitsbrei“ (Felten 2017, 117). „Dieser Einheitsbrei wird allen Beteiligten nicht gerecht“ – so begründete etwa eine Bremer Schulleiterin ihre Ablehnung einer Inklusionsklasse an einem Gymnasium.
Inklusiver Unterricht wird imaginiert als Frontalunterricht pur. Die höchst unterschiedlichen Kinder einer heterogenen Lerngruppe werden nicht unterschiedlich, sondern gleich behandelt, über einen Kamm geschoren. Darüber hinaus werden nach Ansicht der Opponenten die Besonderheiten von Kindern mit Behinderungen durch „Dekategorisierung“ unsichtbar gemacht und damit nivelliert. Die Negation realer Differenzen ist ein weiterer Schritt der „Einheitsdidaktik“, eine Pseudo-Egalität von Kindern mit und ohne Behinderung herzustellen. Das Zerrbild eines inklusiven Unterrichts ist eine Art „Rasenmäher-Didaktik“. Als Beleg für den unterstellten pädagogischen Uniformismus in der Inklusion reichen bei Felten (2017) ein paar Stories und Schauergeschichten. Die Notwendigkeit, den angeblichen „Einheitsunterricht“ auch durch seriöse Erfahrungsberichte oder empirische Untersuchungen zu belegen, kommt nicht in den Sinn und scheint sich auch angesichts der volkstümlichen Plausibilität des „Einheitsbreis“ zu erübrigen. Hinter dem Schimpfwort „Einheitsunterricht“ steckt natürlich wieder einmal der Verdacht des „Egalitarismus“ (Kraus 2017), der im ersten Teil schon als antisozialistische Störung der Inklusionsopponenten beschrieben wurde.
Die drei Beiträge des Essays sind Textauszüge aus dem neuen Buch von Hans Wocken: “CONTRA Inklusionskritik. Eine Apologie der Inklusion”. Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).
Darin setzt sich Deutschlands renommiertester Inklusionsexperte meinungsstark und wortgewaltig mit dem Lager der ideologischen Inklusionsgegner auseinander und wirft ihm fehlende Redlichkeit, einen Unwillen zur fachlichen Auseinandersetzung und einen interessengeleiteten, unfairen und nichtrationalen Duktus der Formen der Auseinandersetzung vor. Dem Ziel der Inklusionsgegner, behinderte Kinder wieder in Sonderschulen zurückzudrängen, tritt Wocken mit seiner neuesten Textsammlung, die mit einem Prolog von Pablo Pineda, einem spanischen Lehrer mit Down-Syndrom, eröffnet wird, entgegentreten.
Das inklusionsdidaktische Fremdbild der Inklusionsopponenten und das inklusionsdidaktische Selbstbild der Inklusionsproponenten weisen keinerlei Gemeinsamkeiten auf, sie liegen wahrlich meilenweit auseinander. Die Erkennungsmelodie der Inklusion ist eine „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 2006). Mit ungläubigem Erstaunen und fassungslosem Kopfschütteln nehmen die Inklusionsproponenten war, dass der inklusiven Schule ein „Einheitsunterricht“ angedichtet wird. Einen gleichmacherischen Einheitsunterricht verortet die Inklusion dagegen eher in den Schulhäusern des gegliederten Systems. Insbesondere in den höheren Sekundarschulformen, also in der Realschule und im Gymnasium, wird nämlich paradoxerweise genau jener „Einheitsunterricht“ exekutiert, den die Inklusionsopponenten der Inklusion unterstellen und vorwerfen. Diese Behauptung sei en Detail belegt.
1. Gleiche Schüler
Der gegliederten Sekundarstufe des bundesdeutschen Schulsystems liegt die sogenannte Begabungsideologie zugrunde. Diese besagt, dass es für verschiedene Begabungen auch verschiedene, „begabungsgerechte“ Schulen geben muss. In Deutschland gibt es genau drei Begabungstypen, die passgenau dem Gymnasium, der Realschule oder der Hauptschule zugeordnet werden können. Wissenschaftlich ist diese Ideologie von der Dreifaltigkeit der Begabungen allerdings längst erledigt (Stern 2005).
Ziel und Aufgabe eines gegliederten Schulsystems ist es nun, möglichst homogene, begabungsgleiche Schülerkollektive zu bilden. „Für die ‚begabungsgerechte‘ Schule werden die passenden Schüler gesucht. Das System Schule steht unveränderlich fest, die zu lösende Aufgabe ist die Auswahl („Selektion“) der richtigen Schüler“ (Wocken 2013, 245). Das Endziel allen Einteilens und Sortierens ist die homogene Jahrgangsklasse: Je gleicher die Schüler einer Klasse sind, desto besser. Dem Ziel einer maximalen Homogenität der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Schulformen und innerhalb der Schulklassen ist das gegliederte Schulsystem mehr als ein Jahrhundert vergeblich hinterhergerannt. Es konnte zu keiner Zeit perfekt realisiert werden, gilt aber unverändert und unwidersprochen als das untadelige Kriterium einer optimalen pädagogischen Einteilung von Schülern.
2. Gleiche Ziele
Die inklusive Schule verkündet frank und frei als eines ihrer prioritären, ja unverzichtbaren Grundsätze das Prinzip des zieldifferenten Lernens. Bei dem Prinzip des zieldifferenten Lernens läuten auf den Fluren eines säuberlich gegliederten Schulwesens alle Alarmglocken – völlig verständlich! Eine Realschule, in der sich auch „ungeeignete“ Hauptschüler aufhalten, oder ein Gymnasium, das auch geistig behinderte Schülerinnen und Schüler besuchen – beides absolut undenkbar. Das Gymnasium und die Realschule fordern kompromisslos absolute Zielgleichheit. Wer das Ziel dieser Schulen nicht zu erreichen imstande ist, ist nicht inkludierbar und für diese Schulformen ungeeignet. Die ungeeigneten Schülerinnen und Schüler werden mit dem geflügelten Wort: „Du gehörst hier nicht hin!“ des Feldes verwiesen.
3. Gleiche Inhalte
Die Schulformen des Bildungssystems haben durchweg einen festen Kanon von Inhalten, der verpflichtend von allen Schülerinnen und Schüler ohne Ansehung ihrer Person anzueignen ist. Weit über 90 Prozent dessen, was in der Schule gelernt werden muss, gehört zum Pflichtpensum. Alle müssen das Gleiche lernen, lautet das rigorose Gebot des Einheitsunterrichts. Für die Entfaltung eigener Interessen und individueller Potentiale lässt die Gleichheitsschule sehr wenig Raum.
4. Gleiche Zeit
Das Lernen in der Schule ist getaktet. Ein bestimmter Stoff muss zwingend von allen in einer vorgegebenen Zeit angeeignet werden, danach wird abgerechnet und zum nächsten Stoff übergegangen. Schulisches Lernen in der „normalen“ Schule heißt weitgehend Lernen im gleichen Schritt und Tritt. Einmal jährlich erfolgt eine große Prüfung, ob das Jahrgangspensum geschafft wurde und die verbindlichen „Standards“ erreicht worden sind. Bei größeren Lücken in zentralen Leistungsfächern muss das gesamte Stoffpensum von vorne bis hinten noch einmal durchgearbeitet werden. Die Sitzenbleiber erhalten eine letzte Chance, die Abweichungen vom geforderten Mainstream auszubügeln, um dann wieder mit der Kolonne mitmarschieren zu können.
5. Gleiche Wege
Nach Comenius sollen sich in der Schule „alle alles vollständig“ („omnes omnia omnino“) aneignen; zu ergänzen wäre: auf die gleiche Art und Weise. In methodischer Hinsicht ist die heutige Schule sicherlich erheblich flexibler und variabler als die denkwürdige alte Schule mit festgeschraubten Sitzreihen, gleichwohl dürfte der Frontalunterricht unverändert die dominante Unterrichtsform sein. Je höher die Schulstufe und je höher die Schulform, desto gleichförmiger die Lehr- und Lernprozesse. Offener Unterricht, Freiarbeit, Portfoliomethode, Planunterricht, Lernbüros, Logbücher, Kooperative Lernformen und andere Methoden eines indirekten Unterrichts sind der gleichheitsfixierten Unterrichtslehre suspekt und fremd. Die ansonsten präferierte Maxime „Freiheit statt Gleichheit“ (Kraus 2017) fällt bei der Gestaltung des Unterrichts schlagartig in Ungnade und wird umgedreht: Gleichheit statt Freiheit. Der gleichschrittige Unterricht praktiziert – mal mehr, mal weniger – eine Gleichschaltung der unterrichtlichen Prozesse, also pädagogischen „Egalitarismus“.
6. Gleiche Ergebnisse
Ob wirklich „alle alles vollständig“ gelernt haben, wird sehr regelmäßig kontrolliert, geprüft und bewertet. Die Lernergebnisse müssen sich innerhalb eines definierten Leistungsspektrums bewegen. Unterschiedlichkeit nach oben wird belohnt, Unterschiedlichkeit nach unten wird gerügt. Bewegen sich die Lernresultate außerhalb eines tolerablen Leistungskorridors, brechen über die „schlechten“ Schülerinnen und Schüler biographische Katastrophen herein: Sitzenbleiben oder Schulverweis. Die zielgleiche Schule duldet keine Zieldifferenz und kennt in dieser Frage keinerlei Pardon.
Genau das ist die wahre, ungeschminkte Wirklichkeit der ganz „normalen“ Schule in einem gegliederten Schulsystem: Gleiche Schüler, gleiche Ziele, gleiche Inhalte, gleiche Zeit, gleiche Wege, gleiche Ergebnisse! Die ganz „normale“ Schule in einem gegliederten Schulsystem ist eine Gleichheitsschule par excellence! Die „normale“ Schule realisiert „Einheitsunterricht“, die „normale“ Schule betreibt Standardisierung der Schüler, also „Gleichmacherei“! Die pädagogische Leitkultur der „normalen“ Schule ist der pädagogische Egalitarismus! Die Lehrerinnen und Lehrer sind eingezwängt in einem Gleichheitskorsett, dessen Folge dann ein Gleichheitsunterricht für alle ist.
Hier geht’s zum ersten Teil des Essays.
Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).
Auch auf der Facebook-Seite von News4teachers wird der Beitrag heiß diskutiert.
Hans Wocken ist gelernter Sonderschullehrer und hatte von 1980 bis 2008 an der Universität Hamburg eine Professur für Lernbehinderten- und Integrationspädagogik inne. Er war ein Pionier der integrativen Pädagogik und hat die schulische Integration bzw. Inklusion von Anfang an mitgestaltet und mitgeprägt. In den 80er Jahren initiierte er in Hamburg zwei Schulversuche zur Integration und hat sie wissenschaftlich begleitet. In der Inklusionspädagogik vertritt er eine „dialektische“ Position. Inklusionspolitik und -pädagogik fordern u.a.
- eine Balance von Philosophie und Pragmatismus;
- eine Balance von Freiheit und Gleichheit;
- eine Balance von Vielfalt und Gemeinsamkeit;
- eine Balance von Anpassung der Schule und Anpassung der Kinder;
- eine Balance von gemeinsamen und individuellen Lernsituationen;
- eine Balance von angeleitetem und selbstgesteuerten Lernen.
Homepage: www.hans-wocken.de
News4teachers-Dossier – gratis herunterladbar: „Das Inklusions-Chaos”