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Rechtsextremismus in Sachsen: Sind die Schulen im Freistaat mit der politischen Bildung gescheitert?

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DRESDEN. Die Ausschreitungen von Chemnitz rücken – erneut – den Freistaat Sachsen und den dort grassierenden Rechtsextremismus in den Fokus. Der „Sachsen-Monitor“, eine im Auftrag der Landesregierung erhobene Umfrage, hatte bereits 2016 ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber der parlamentarischen Demokratie offengelegt. Zudem wurde deutlich, dass überproportional viele jüngere Menschen in Sachsen sich unkritisch gegenüber dem Nationalsozialismus zeigen. Hat die Schule im Freistaat bei der politischen Bildung versagt? Der Sächsische Lehrerverband weist den Vorwurf zurück – mit einer allerdings fragwürdigen Begründung.

Fremdenfeindliche Kundgebung in Sachsen. Foto: Jasper Goslicki / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

„Schuldzuweisungen gegenüber der schulischen Bildung und den Lehrkräften in Sachsen im Zusammenhang mit den Demonstrationen und Ausschreitungen in Chemnitz sind völlig absurd“, meint Jens Weichelt, Vorsitzender des Sächsischen Lehrerverbandes. „Sächsische Lehrerinnen und Lehrer nehmen ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag sehr ernst und setzen ihn vorbildlich um. Das beschränkt sich bei weitem nicht nur auf den Bereich der politischen Bildung.“ Entsprechend falsch sei es, den Schulen eine Mitverantwortung an den politischen Entwicklungen im Freistaat zu unterstellen oder gar Lehrer mit DDR-Biographie als Mitverursacher darzustellen. „Schule ist kein Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Bildung findet nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen statt, sondern greift diese auf. Hier machen es sich einige Leute zu einfach bei der Ursachenanalyse“, meint Weichelt.

Er verweist auf den sogenannten Beutelsbacher Konsens zur politischen Bildung, der seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland Grundsätze für den Politikunterricht festlegt. „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen“, meint Weichelt. Das „Überwältigungsverbot“ erlaube es nicht, „den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.“

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Ist eine Demokratie-Erziehung, die Schüler die Regeln des rechtsstaatlichen Miteinanders vermittelt, also Indoktrination? Umgekehrt: Hat die Schule „neutral“ zu sein, wenn extreme Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit von vielen Menschen geteilt werden?

Tatsächlich ist das in Sachsen der Fall. „Auffallend sind das recht geringe Vertrauen in die Funktionsweise der Demokratie und deren Institutionen“, so stellte der „Sachsen-Monitor“ bereits 2016 fest. „Den Parteien, Regierungen und Parlamenten – mit Ausnahme der kommunalen Ebene – vertraut nur eine Minderheit.“ Eine Mehrheit ist hingegen der Meinung, Deutschland brauche eine starke Partei, die die „Volksgemeinschaft“ insgesamt verkörpert. Zudem sehen 46 Prozent die DDR nicht als Unrechtstaat. Und: „Ressentiments gegen Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit sind in Teilen der sächsischen Bevölkerung verbreitet. So ist eine Mehrheit (58 Prozent) der Sachsen der Meinung, dass Deutschland in einem gefährlichen Maß ‚überfremdet‘ sei.“ Je jünger die Befragten sind, desto größer ist die Zustimmungsrate zu radikalen Positionen.

Dass die Schule durchaus einen Erziehungsauftrag hin zur Demokratiefähigkeit seiner jungen Menschen hat, wird nicht nur im sächsischen Schulgesetz deutlich (siehe unten). Auch die sächsische Landesregierung erkannte nach Veröffentlichung des „Sachsen-Monitors“ Handlungsbedarf – die damalige Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) sprach von „erschreckenden Ergebnissen“ und kündigte eine Qualitätsoffensive zur politischen Bildung an. Wohlgemerkt: 27 Jahre nach dem Fall der Mauer.

„Die Demokratieerziehung zu stärken, kann aber nur mit einem integrierten Ansatz erfolgsversprechend sein“, so meinte Kurth seinerzeit. Daher dürften sich die politische Bildung und das Vorleben von demokratischen Werten nicht auf einzelne Unterrichtsfächer beschränken, sondern müssten Aufgabe aller Fächer sein. Die Demokratieerziehung und interkulturelle Bildung an Schulen müsse den gleichen Stellenwert genießen wie die Vermittlung anderer Kernkompetenzen in den Unterrichtsfächern. Mindestens ebenso wichtig wie politische Bildung im Unterricht sei die Frage, wie eine demokratische Kultur an Schulen gepflegt und gelebt werde. „Politische Bildung gelingt immer dann am besten, wenn sie erlebbar und ergreifbar wird“, befand Kurth.

“Etwas umschifft”

Dass es dabei tatsächlich gravierende Versäumnisse in der Nachwendezeit gab, räumte ein Ministerialer auf einer Konferenz des Kultusministeriums in Chemnitz für Schulleiter und Fachlehrer aller Schularten im vergangenen November ein. „Nach der friedlichen Revolution 1989 wurden einige Entscheidungen von dem Bewusstsein bestimmt, wie es vorher war”, sagte Referatsleiter Béla Bélafi einem Bericht der „Freien Presse“ zufolge. Die Experten hätten also vor allem gefürchtet, dass sich eine schulische Indoktrinierung wie in der DDR fortsetzen könnte. Politik und insbesondere die Themen Streitkultur und politischer Diskurs seien dabei „wohl etwas umschifft“ worden.

Allzu viel Hoffnung, dass sich die Situation grundlegend ändern könnte, konnte Kurth aber auch nach dem „Sachsen-Monitor“ nicht wecken. Denn ihr Vorstoß war nicht mit Ressourcen unterlegt. Heißt: Zusätzliche Lehrer, die sich um das Thema hätten kümmern können, gab es nicht. So warnte die Ministerin selbst vor übersteigerten Erwartungen. „Schule allein macht noch keine bessere Gesellschaft. Demokratieerziehung an Schulen kann nur Früchte tragen, wenn sie mit zivilgesellschaftlichen Maßnahmen im Umfeld von Schule einhergehen“, meinte sie. Tatsächlich erscheint fraglich, ob Demokratie-Erziehung „so nebenbei“ gelingen kann, wenn das Land Sachsen sich vorrangig für seine stets guten Ergebnisse in den Kategorien der Länder-Leistungsvergleiche interessiert: Bei PISA liegt Sachsen regelmäßig an der Spitze. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Das sächsische Schulgesetz

§ 1 Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule

(1)    Die Schule unterrichtet und erzieht junge Menschen auf der Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Freistaates Sachsen. Eltern und Schule wirken bei der Verwirklichung des Erziehungs- und Bildungsauftrags partnerschaftlich zusammen.

(…)

(5) Die Schüler sollen insbesondere lernen,

1.    selbstständig, eigenverantwortlich und in sozialer Gemeinschaft zu handeln,

(…)

3.    eigene Meinungen zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, diese zu vertreten und den Meinungen und Entscheidungen anderer Verständnis und Achtung entgegenzubringen,

4.    allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, unabhängig von ihrer ethnischen und kulturellen Herkunft, äußeren Erscheinung, ihren religiösen und weltanschaulichen Ansichten und ihrer sexuellen Orientierung sowie für ein diskriminierungsfreies Miteinander einzutreten,

(…)

7.    angemessen, selbstbestimmt, kompetent und sozial verantwortlich in einer durch Medien geprägten Welt zu handeln sowie Medien entsprechend für Kommunikation und Information einzusetzen, zu gestalten, für das kreative Lösen von Problemen und das selbstbestimmte Lernen zu nutzen sowie sich mit Medien kritisch auseinander zu setzen und

8.    Ursachen und Gefahren der Ideologie des Nationalsozialismus sowie anderer totalitärer und autoritärer Regime zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.

Auch auf der Facebook-Seite von News4teachers wird das Thema diskutiert:

Was wir jetzt brauchen: Eine Bildungs-Offensive gegen die Hass-Kultur!

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