Website-Icon News4teachers

Eine Lehrerin bekennt: Ich gebe nur noch gute Noten, weil gerechte Zensuren eine Illusion sind – Debatte um Leistungsbewertung

Anzeige

BERLIN. Philologen-Chefin Susanne Lin-Klitzing fordert strengere Abiturnoten – und hat damit eine Grundsatzdiskussion um Sinn und Gehalt von Zensuren ausgelöst. Auf „Spiegel online“ erschien heute das anonyme Bekenntnis einer Lehrerin eines nordrhein-westfälischen Berufskollegs, die angibt, nur noch gute Noten zu vergeben – bis hin zum Abitur. „Jeder bekommt eine Studienberechtigung“, sagt sie. Denn: „Es ist eine Illusion, dass Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Noten gerecht und verantwortungsbewusst Leistungen widerspiegeln können.“ Damit führt sie ein Argument an, das immer wieder auch von Verbänden und in der Wissenschaft vertreten wird.

Wie aussagekräftig sind Zensuren? Illustration: pixabay

Der Deutsche Philologenverband verlangt strengere Bewertungen der Abiturienten in Deutschland. Nötig seien aussagekräftigere Abiturnoten, sagte die Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing am Wochenende in Berlin (News4teachers berichtete). Dies sei erforderlich, „wenn wir wollen, dass die jungen Menschen gut auf das Arbeitsleben oder ein Studium vorbereitet werden“. Andernfalls erhielten viele Schülerinnen und Schüler eine positivere Rückmeldung über ihre Leistung, als es ihrem realen Stand entspreche, meint Lin-Klitzing. „Jenseits der Schule kann eine entsprechend falsche Selbsteinschätzung aber Probleme für die Betroffenen bringen.“ Hintergrund ihres Vorstoßes: Die durchschnittlichen Abschlussnoten werden immer besser, wenn auch nur leicht. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise lag das Mittel zuletzt bei 2,45, zehn Jahre vorher bei 2,64.

Nur: Geben Zensuren wirklich ein objektives Bild vom Leistungsstand eines Schülers? „Die empirischen Ergebnisse der Schulforschung sind stabil seit Jahrzehnten: Seit 40 Jahren wird dieses verzerrte Bild beklagt. ‚Verzerrtes Bild‘ – das bedeutet, innerhalb einer Klasse beschreiben die Noten das, was man an Leistungsdifferenzen messen kann, relativ genau. Aber schon über Klassen oder gar Schulen hinweg – überhaupt nicht mehr. Noten sind schlicht nicht vergleichbar“, so erklärt Prof. Georg Breidenstein, Erziehungswissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in einem Interview mit mdr Kultur.

Anzeige

Mit einer übergroßen Subjektivität der Lehrer habe das gar nichts zu tun. Breidenstein: „Gemessen wird die Leistung des Schülers an seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Das ist der Vergleichsmaßstab, die sogenannte soziale Bezugsnorm. Man kann empirisch zeigen, dass es immer dieser Maßstab ist, der die Notengebung dominiert. Der Lehrer hat also die Leistung und vergleicht sie mit denen der Mitschüler, die auch in dieser Situation gemessen worden ist – in einer Klassenarbeit zum Beispiel.“ Deshalb könnten Noten auch nicht den Anspruch erfüllen, ein gerechter Maßstab für Leistung zu sein (wie ihn Lin-Klitzing implizit erhebt). „An der Stelle gerate ich in Schwierigkeiten, wenn ich feststelle, dass diese Noten nicht vergleichbar sind – und zwar systematisch nicht vergleichbar sind. Denn das heißt, dass da ein systematisches Gerechtigkeitsproblem auftaucht, wenn die Noten nur im Rahmen der Schulklasse funktionieren“, sagt Breidenstein.

Disziplinierungs- und Motivierungsfunktion

Auch andere Funktionen werden Zensuren zugeschrieben – etwa eine Disziplinierungs- und Motivierungsfunktion. Doch stimmt es überhaupt, dass Schüler ohne Notendruck in Faulheit versinken? Die Kollegin, sich auf „Spiegel online“ dazu bekennt, nur noch gute Zensuren zu vergeben, beobachtet das Gegenteil. „Da die Noten als Druckmittel wegfallen, ist keine Schülerin und kein Schüler mehr dazu gezwungen, sich mit bestimmten Unterrichtsinhalten auseinanderzusetzen oder sich an etwas anzupassen. Ich muss nun also andere Wege finden, wenn ich möchte, dass sich die Schüler mit einem Thema beschäftigen. Das ist manchmal anstrengend. Aber vor allem macht es ganz viel Freude“, so schreibt sie.

Denn: „Die Schüler und Schülerinnen motiviert es, wenn sie ihr Lernen nun noch mehr selbst steuern und verantworten können. Und wenn man ihnen richtig viel zutraut. Dann entsteht mehr Raum für Teamgeist, Ehrlichkeit, Verantwortungsgefühl und Motivation – Grundlagen für nachhaltiges Lernen. Es fühlt sich richtig an, wenn sich alle im Klassenraum gerade aus Überzeugung und nicht aus Angst vor Konsequenzen ruhig verhalten.“

In dieselbe Kerbe hatten die GEW und der Kinderschutzbund im vergangenen März geschlagen – mit einer gemeinsamen Initiative in Schleswig-Holstein (News4teachers berichtete). „Die Annahme, Kinder würden ohne Ziffernnoten nicht ausreichend lernen, ist längst überholt“, erklärte die Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes, Irene Johns. „Im Gegenteil: Studien belegen, dass gerade in der Grundschule Ziffernnoten die Leistungsmotivation beeinträchtigen – und das nicht nur bei leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Sie verstärken Leistungsängste und verringern die Lernfreude“, sagte Johns.

GEW-Landeschefin Astrid Henke befand: „Wer individuelle Förderung und Inklusion ernst nimmt, darf die Schülerinnen und Schüler nicht über einen Kamm scheren. Das geschieht aber bei der Vergabe von Ziffernnoten. Individuelle Rückmeldungen und Förderhinweise eignen sich daher viel besser als Instrumente der Leistungsbewertung.“ Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zum vollständigen Bekenntnis der Lehrerin auf “Spiegel online”.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

GEW befeuert Debatte um Abschaffung von Ziffernoten – KMK-Chefin Eisenmann stellt sich dagegen

Anzeige
Die mobile Version verlassen