HEILBRONN. Bildungsgerechtigkeit? Für die einen ein Reizthema, für die anderen eine eher akademische Diskussion. Dass sich aus der Forderung nach besseren Chancen für benachteiligte Kinder eine bemerkenswert klare und handfeste bildungspolitische Empfehlung aus der Wissenschaft ergibt – und sich zudem eine Vielzahl von Anregungen für die praktische Arbeit in Kitas und Schulen gewinnen lassen –, belegte die diesjährige Bildungskonferenz der gemeinnützigen aim-Akademie in Heilbronn. Über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie mehr als 30 Workshops und Foren sorgten für Tiefgang.
Geht es im deutschen Schulsystem gerecht zu? Klar, meint ein 12-Jähriger, den die Organisatoren der Konferenz zuvor befragt haben und dessen Statement nun auf dem Bildschirm in der Aula der aim-Akademie zu sehen ist – wer sich in der Schule anstrenge, der komme auch zum Erfolg. Dass die Wirklichkeit häufig anders aussieht, konstatiert der Moderator und Bildungsjournalist Lothar Guckeisen und wird kurz darauf von wissenschaftlicher Seite bestätigt: Ulrich Trautwein, Professor für Empirische Bildungsforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen, macht in seinem Hauptvortrag deutlich, dass Bildungserfolg in Deutschland „vererbt“ wird – und dass dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem attraktiveren Beruf, zu besserer Gesundheit und einer größeren gesellschaftlichen Teilhabe führe. Kurz: zu einem besseren Leben. Und dass eben nicht allein Leistung dorthin führe, sondern zu einem maßgeblichen Teil die soziale Herkunft.
Aber ist das zwingend ungerecht? Begabung werde eben auch vererbt – so wenden Kritiker ein. Stimmt, meint Trautwein. Allerdings erklärten Begabungsunterschiede („die Gene“) nicht das Ausmaß des messbaren Zusammenhangs zwischen Bildungserfolg und familiären Hintergrund. Deutschland liegt im internationalen Vergleich in dieser unrühmlichen Kategorie nach wie vor mit an der Spitze. Darüber hinaus, so betont der Wissenschaftler, sei „Begabung“ nichts Statisches. Heißt: Kinder, die gefördert werden, können Entwicklungssprünge machen. Oder, wenn Förderung unterbleibt, verkümmern. „Wie kriegt man das Problem weg?“, so fragt Trautwein, um selbst zu antworten: „Man kriegt’s nicht weg.“ Es werde immer soziale Disparitäten geben. Das heiße aber noch lange nicht, nichts mehr dafür tun zu müssen, solche „empörenden“ Ungerechtigkeiten zumindest zu mildern.
Hier sei die Bildungspolitik gefordert. Allerdings: Sie ist dem Forscher zufolge mit ihren bisherigen Konzepten gescheitert. Weder Niveauabsenkungen noch die Versuche, mehr Durchlässigkeit ins gegliederte Schulsystem zu bringen, hätten in Sachen Bildungsgerechtigkeit Erfolg gebracht. Die Lösung liegt laut Trautwein auf der Hand, obwohl sie „lange nicht begriffen“ wurde: Es gehe – angesichts von 18 Prozent Viertklässlern, die laut IGLU-Studie nicht ausreichend gut lesen können – schlicht darum, die Qualität zu verbessern. „Die Empfehlung lautet: Kümmert euch nicht um Strukturreformen – der Hauptschwerpunkt muss konsequent bei den leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern liegen. Wir brauchen mehr und besseren Unterricht“, schlussfolgert Trautwein.
Mehr “Lesen, Schreiben und Rechnen” in der Grundschule
Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) dürfte dieses Fazit als Bestätigung ihrer Politik verstanden haben. „Wir müssen einräumen, wir sind noch nicht wirklich weit gekommen“, hatte sie in ihrer Begrüßungsrede festgestellt und sich dabei auf Schülerleistungsvergleiche bezogen, die Deutschland wie Baden-Württemberg zuletzt sogar wachsende Probleme attestiert hatten. „Wir müssen uns künftig genauer ansehen, wo das einzelne Kind steht“ – beginnend im Kindergarten, wo bei Sprachdefiziten frühzeitig gefördert werden müsse, bis hin zu den Schulen, wo der Fokus künftig stärker wieder auf die Grundbildung gelegt werde. Eisenmann hat unter anderem den Grundschulen den Englischunterricht in den Klassen eins und zwei gestrichen – und dafür mehr Stunden fürs „Lesen, Schreiben und Rechnen“ zugewiesen.
Von der Politik in die Praxis führten die zahlreichen Workshops, die auf der aim-Bildungskonferenz angeboten wurden – und die aufzeigten, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, die Chancen benachteiligter Kinder in den Kitas und Schulen zu verbessern.
Erster Punkt: die Sprache. Deren Bedeutung in der Bildung sei in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen, erklärte Josef Leisen, Professor für die Didaktik der Physik an der Universität Mainz. In der Mathematik der 80-er Jahre beispielsweise hätten Schüler drei Begriffe kennen müssen: „Berechne! Erkläre! Begründe!“ Ihm sei dagegen aktuell der Fall eines syrischen Flüchtlingsmädchens zu Ohren gekommen, das in einer Mathematikprüfung gescheitert sei – am Wort „Litfasssäule“, das im Text der Aufgabe auftauchte und den sie nicht kannte. Das Fach Mathematik sei heutzutage deutlich kontextbezogener und damit textbasierter als früher.
Das gelte auch für andere Bereiche: „In den 70-er Jahren umfasste das Handbuch eines Kfz-Technikers bei VW 60 Seiten, heute sind es 5.000 Seiten“, konstatierte Leisen. Lange Zeit habe nicht so im Fokus gestanden, welche Bedeutung die Beherrschung von Bildungssprache (also nicht nur Alltagsdeutsch) für das Lernen habe. Heute sei das Bewusstsein bei den Lehrkräften größer. Gleichwohl sei viel zu tun („es gibt immer mehr, die nicht mehr mitkommen“). Vor allem fehle es oft noch an einer systematischen Vermittlung, an einem „Sprachbad“, wie es der Didaktik-Professor nannte.
Weitere interessante und praxisnahe Workshops: Wie Erzieher und Lehrer in herausfordernden Elterngesprächen durch „wertschätzende Kommunikation“ Brücken bauen – und damit auch gerade Kindern aus bildungsfernen Familien helfen können (die Diplom-Sozialpädagogin Sabine Garrett gab Anregungen, wie sich durch einen systemischen Perspektivwechsel in Vorbereitung solcher Treffen Verständnis für das Gegenüber aufbauen und Druck herausnehmen lässt); welche Bedeutung „Ästhetische Bildung“ dabei haben kann, benachteiligten Schülern bessere Lebenschancen zukommen zu lassen (der Pädagoge und Theaterwissenschaftler Dr. Leopold Klepacki verwies auf fehlende Teilhabemöglichkeiten, wenn Zugänge zu Kunst und Musik fehlten); die Sonderpädagogen Peter Greiner und Dirk Hattenhauer von den Schulen der Nikolauspflege berichteten davon, wie digitale Medien dazu beitragen können, (seh-)behinderte Kinder im Regelunterricht teilhaben zu lassen.
Lebendige Debatten und Foren, ob in kleiner oder großer Runde, begleiteten die Konferenz. Tatjana Linke, Geschäftsführerin der aim-Akademie und Gastgeberin, erntete lautstarken Sonderapplaus, als sie in einer Diskussionsrunde auf den Zusammenhang von Qualität eines Bildungssystems und seiner Ressourcenausstattung verwies. „Wir können doch nicht so tun, als ob wir genug Geld hätten“, sagte sie. Über die Kosten von Sozialleistungen werde in unserer Gesellschaft immer wieder gestritten. Dabei ließen die sich zumindest langfristig senken, wenn die Politik mehr in den Anfang – und damit in Bildungschancen – investieren würde. Andrej Priboschek / Agentur für Bildungsjournalismus
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Drängender denn je: Warum wir mehr Chancengerechtigkeit im Schulsystem brauchen – eine Gegenrede