MÜNCHEN. In dieser Woche haben alle Schüler der vierten Grundschulklassen in Bayern ein sogenanntes Übertrittszeugnis bekommen. Anhand des Notendurchschnitts entscheidet sich, welche weiterführende Schule ein Kind besuchen darf. Um das „Grundschulabitur“ ist im Freistaat ein hitziger politischer Streit ausgebrochen: Bürgerinitiativen für eine freie Schulwahl haben sich formiert (News4teachers berichtete). Scharfe Kritik kommt auch aus den Lehrerverbänden, die Grundschullehrer vertreten. Philologenverband, Realschullehrerverband und Berufsschulehrer hingegen verteidigen das strenge Auswahlverfahren.
Für die GEW ist das Übertrittszeugnis ein wiederkehrendes Ärgernis. „Es gehört endlich abgeschafft“, so heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung. Unterschiedliche und vielfältige Fähigkeiten der Lernenden bereicherten alle Beteiligten und dürfen nicht als Grund für eine Aufteilung in verschieden wertige Gruppen dienen. Die GEW fordert daher in einem Grundsatzbeschluss „Schulen, die alle Kinder und Jugendlichen willkommen heißen, die persönliche Lernwege anbieten und die niemanden beschämen.“ Das „Ende für die Angst erzeugenden, Versagen provozierenden und das Lernen verleidenden Bewertungen, besonders in Form von Noten“ seieine grundlegende Voraussetzung dafür.
Für Ruth Brenner, Sprecherin der GEW-Landesfachgruppe Grund- und Mittelschulen zeigt sich das überdeutlich: „Wenn man sieht, wie die Kinder bereits ab der dritten Klasse unter Druck stehen, um den erwarteten Notenschnitt in der vierten Klasse zu erreichen, kommt man nicht umhin, dieses System grundlegend abzulehnen.“
Die Voraussetzung für den Übertritt in Mittelschule, Realschule oder Gymnasium errechnet sich nach wie vor allein aus den Noten in Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht. So entscheiden diese Noten über den weiteren Bildungsweg der Kinder. Ruth Brenner stellt klar: „Diese Schubladen haben keinerlei pädagogische oder wissenschaftliche Fundierung: Sie dienen allein der Selektion von 9 bis 10-jährigen Kindern und der Zuordnung zu einem zergliederten und zerklüfteten Schulsystem. Für viele Familien wird mit dem Zeugnis klar, ob ihre Kinder zu den Siegern oder zu den Verlierern im Ausleseverfahren gehören. Dies muss endlich beendet werden.“
Eine große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen lehne den Auslesezwang ab – und möchte Kinder gern in Bezug auf ihren persönlichen Fortschritt beurteilen. Die Entscheidung, welche Schulart ein Kind besuchen soll, ist den Kindern zusammen mit ihren Eltern zu überlassen, die Schule hat dabei eine beratende Funktion. Auch der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) hatte entsprechendes gefordert (News4teachers berichtete).
“Das bayerische Bildungssystem bietet genug Bildungswege”
Das sehen die Verbände, die ausschließlich Lehrkräfte aus weiterführenden Schulen vertreten, komplett anders. „Wer Eltern und Kinder mit der Behauptung verunsichert, dass am Ende der 4. Jahrgangsstufe der Grundschule bereits alle Entscheidungen für ein erfolgreiches Leben gefallen seien, der vergeht sich bewusst an der heranwachsenden Generation und schürt Verunsicherung und Pessimismus“, so kommentiert Jürgen Böhm, Präsident der Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Lehrerverbände und Vorsitzender des Bayerischen Realschullehrerverbandes (brlv).
Es geht bei dieser emotional und medial aufgeheizten Diskussion nicht um die Schülerinnen und Schüler – behauptet Böhm –, sondern um den Versuch, „das gesamte erfolgreiche Bildungswesen in Bayern zu schwächen und letztendlich auszuhebeln“. Die differenzierten Schularten im Freistaat böten vielfältige Wege, die alle zum beruflichen und persönlichen Erfolg führen. Die Durchlässigkeit und die Anschlussfähigkeit der einzelnen Schularten und Schulabschlüsse ließen allen Kindern alle Wege offen.
„Wenn heute fast 45 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen nicht mehr auf einem Gymnasium erworben werden, dann sieht man die Leistungsfähigkeit der Mittel- und Realschulen, die im Zusammenspiel mit den beruflichen Schulen neben der qualitativen Berufsausbildung auch den Zugang zu Universitäten eröffnen“, so Pankraz Männlein, Landesvorsitzender des Verbandes der Lehrer an beruflichen Schulen (VLB).
Im Vergleich zu anderen Bundesländern, die sich in den vergangenen Jahren von klaren Leistungskriterien und differenzierten Bildungswegen aus politischen und ideologischen Gründen entfernt hätten, stehe Bayern in Punkto Schulerfolg, Abschlussqualität und Anschlussfähigkeit ins Berufsleben auf einem nationalen und internationalen Spitzenplatz. „Die Entscheidung, wer eine erfolgreiche Fachkraft der Zukunft wird, fällt nicht nach der 4. Jahrgangsstufe. Wir legen daher allen Beteiligten etwas mehr Gelassenheit ans Herz. Unser bayerisches Bildungssystem bietet vielfältige individuelle Bildungswege, welche die jungen Menschen überall ankommen lassen “, so Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands. Agentur für Bildungsjournalismus
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
