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„Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ist ein Märchen“: Warum der Ansturm aufs Gymnasium gute Gründe hat

BERLIN. Immer größer ist bundesweit der Anteil der Schüler, die nach der Grundschule aufs Gymnasium wechseln. Zwei von fünf Kindern sind es mittlerweile (News4teachers berichtete).  Ist das Ausdruck eines „Akademisierungswahns“, der die Eltern in Deutschland erfasst hat? Oder ist das Phänomen nicht doch Ausdruck eines rationalen Wahlverhaltens – angesichts deutlich besserer beruflicher Perspektiven, die sich aus dem Abitur ergeben? Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ist tatsächlich mehr frommer Wunsch als Realität, wie Statistiken zeigen. Der öffentliche Dienst ist dabei keine Ausnahme.

„Die Ausbildung in den Betrieben ist genauso viel wert wie an den Universitäten“, sagt Bundesbildungsministerin Karliczek. Aber stimmt das auch? Illustration: Shutterstock

„Wir brauchen in Zukunft wieder wesentlich mehr junge Leute, die eine duale Ausbildung machen. Nur auf Akademiker zu setzen ist falsch“, sagte Wolfgang Grenke, Präsident des Industrie- und Handelskammertags Baden-Württemberg, zum Jahresbeginn  in Stuttgart. Es müssten die Fachkräfte von morgen gesichert werden. Die Unternehmen im Ländle würden bis 2030 jede siebte Fachkraftstelle nicht besetzen können. Dabei verdiene etwa ein Handwerksmeister „in vielen Fällen mehr als ein Hochschulabsolvent“, sagte Grenke.

“Es wird Zeit, dass wir alle Schulabschülüsse wieder gleichermaßen wertschätzen”

Politiker stimmen mit ein. „Die Akademisierungsquote war in internationalen Studien über viele Jahre der zentrale Maßstab für Bildungsqualität. Ich glaube, das hat uns beeindruckt und zu falschen Signalen verleitet“, meint etwa die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). “Dabei haben wir mit dem dualen System ein Alleinstellungsmerkmal auf höchstem Niveau. Es wird deshalb Zeit, dass wir vom bildungspolitischen Ansatz her alle Schulabschlüsse wieder gleichermaßen wertschätzen. Wir müssen deutlich machen, dass nicht jeder das Abitur braucht und dass kognitive und handwerkliche Begabungen absolut gleichwertig sind.“

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Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) stößt ins gleiche Horn. Ihr zufolge wird die berufliche Ausbildung in Deutschland immer noch zu wenig wertgeschätzt. „Die Ausbildung in den Betrieben ist genauso viel wert wie an den Universitäten“, beteuert sie.

Aber: Stimmt das auch?  Menschen mit Berufsausbildung haben immer noch wesentlich schlechtere Karrierechancen als Absolventen mit Hochschulabschluss – meinen jedenfalls aktuell die Grünen und berufen sich dabei auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage. „Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ist ein wichtiger Anspruch – in der realen Berufswelt leider ein modernes Märchen, das Bildungsministerin Karliczek in jeder Rede erzählt“, erklärt der Grünen-Bildungsexperte Kai Gehring im Gespräch. Es gebe kaum Führungskräfte ohne Hochschulabschluss, von höheren Posten im öffentlichen Dienst seien beruflich Qualifizierte gänzlich ausgeschlossen.

Die Bundesregierung hat nach eigenen Angaben keinen Überblick über die Zahl von Nicht-Akademikern in Führungspositionen. In der Regierungsantwort auf die Anfrage Gehrings und weiterer Grünen-Politiker zum Thema heißt es: „Zur Entwicklung der Anzahl von Führungskräften ohne Hochschulabschluss bei privaten Unternehmen und bei Einrichtungen der öffentlichen Hand bzw. staatlichen Einrichtungen liegen der Bundesregierung keine belastbaren Daten vor, da keine allgemein anerkannte Definition für Führungskraft existiert.“

„Der öffentliche Dienst sollte Vorreiter und Vorbild sein“

Gehring fordert die Regierung auf, Laufbahnregelungen und das Tarifrecht so zu ändern, dass bei Stellenausschreibungen für den höheren Dienst in Bundesbehörden auch Bewerber ohne Hochschulabschluss, aber mit gleicher Qualifikation zum Zuge kommen. „Der öffentliche Dienst sollte Vorreiter und Vorbild sein.“  Zudem verlangte er statistische Erhebungen, um festzustellen, wie sich die Anzahl von Nicht-Akademikern in Führungsetagen von Unternehmen und öffentlichem Dienst entwickelt.

Die Antwort der Bundesregierung zeigt auch, Beschäftigte mit Hochschulabschluss haben im Vergleich zu Beschäftigen mit Berufsausbildung sowohl beim Einkommen als auch beim Risiko, arbeitslos zu werden, weiterhin die besseren Karten: So kamen Akademiker beim Berufseinstieg 2018 auf ein mittleres Einkommen von 3640 Euro brutto, Einsteiger mit Berufsausbildung auf 2488 Euro. Die Arbeitslosenquote lag bei Akademikern mit 2,2 Prozent einen Prozentpunkt unter der von Beschäftigten mit Berufsausbildung.

Lange hat die OECD Deutschland dafür kritisiert, dass hierzulande angeblich zu wenige junge Menschen einen akademischen Abschluss erreichen. Zuletzt lobte die OECD Deutschland ausdrücklich für sein Duales System und seine niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Ein Widerspruch? Der OECD-Bildungsdirektor und PISA-Koordinator Andreas Schleicher erklärte schon 2016 gegenüber News4teachers: „Beides ist richtig. Das Duale System bietet einen hervorragenden Berufseinstieg, ja. Aber dieser Erfolg darf uns den Blick für die Realität nicht verstellen – Akademiker haben einen großen Gehaltsvorteil, und der ist in den vergangenen Jahren nochmal enorm gewachsen. Die langfristigen Berufsaussichten bleiben für Hochschul-Absolventen gut.“

Schleichers Schlussfolgerung: „Deutschland muss die Bereiche stärker miteinander verzahnen, etwa durch eine Stärkung des Dualen Studiums.“ News4teachers / mit Material der dpa

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