BERLIN. „Inklusive Bildung ist ein Grundrecht, sie muss selbstverständlich sein“, sagt Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Obwohl Deutschland schon vor zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, sieht es bei der Umsetzung im Schulsystem nach wie vor mau aus: Noch immer lernt in Deutschland die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf separiert, statt den Unterricht an allgemeinen Schulen zu besuchen. Das hat auch mit den unterschiedlichen Schulgesetzen der Länder zu tun.
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung“, so heißt es in Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention. „Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen (…)“. Menschen dürfen nicht aufgrund ihrer Behinderung „vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“. Sie müssen „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“.
“Die Verhältnisse bei der schulischen Inklusion klaffen weit auseinander”
Aus diesen recht eindeutigen Vorgaben, die in ganz Deutschland Gesetzeskraft haben, wurden in den Bundesländern höchst unterschiedliche Regelungen entwickelt, wie aus dem aktuellen „Kinderrechte-Index“ des Deutschen Kinderhilfswerks hervorgeht. „Nur in vier Bundesländern ist ein Rechtsanspruch von Kindern auf Zugang zu einer allgemeinen Schule mit gemeinsamem Unterricht und inklusiver Beschulung durch das Schulgesetz ohne Ressourcenvorbehalt gewährleistet“, nämlich in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und im Saarland, so heißt es darin.
„In acht Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Thüringen) ist der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung durch das Schulgesetz mit einem Ressourcenvorbehalt verbunden, das heißt die Schulplatzwahl wird beispielsweise davon abhängig gemacht, ob geeignete räumliche Ressourcen vorhanden sind.“ In Baden-Württemberg lege das Schulgesetz zwar fest, dass Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam erzogen und unterrichtet werden, jedoch kann dieses auch an den fortbestehenden Förderschulen geschehen – was mit Inklusion dann praktisch nichts mehr zu tun habe. Schüler in Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt werden doppelt eingeschränkt: Sie haben keinen Rechtsanspruch auf inklusiven Unterricht – und dann besteht auch noch ein Ressourcenvorbehalt. Heißt: Ob ein behindertes Kind einen Platz an einer Regelschule bekommt, ist willkürlich.
„Auch wenn sich seit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland bei der inklusiven Bildung schon viel getan hat, fällt die Bilanz ernüchternd aus“, betont Ute Erdsiek-Rave, ehemalige Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und Vorsitzende des Expertenkreises Inklusive Bildung der Deutschen UNESCO-Kommission. „Die Verhältnisse in Deutschland klaffen weit auseinander. Das ist weder für Eltern noch Kinder hinnehmbar. Sie sollten nicht um ihr Recht auf gute Bildung kämpfen müssen“, so Erdsiek-Rave.
Nicht nur die Rechtslage zur Inklusion ist wichtig – auch deren Anwendung
Tatsächlich hapert es nicht nur an der Rechtslage in vielen Bundesländern. Sie muss dann auch noch umgesetzt werden. „Neben der gesetzlichen Verankerung eines Rechtsanspruchs müssen Bundesländer für die Umsetzung eine Reihe weiterer Maßnahmen ergreifen, um den Zugang aller Kinder zu den allgemeinen Schulen und Bildungseinrichtungen zu ermöglichen“, so heißt es im „Kinderrechte-Index“ – vor allem „wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen“, wie sie die Behindertenrechtskonvention vorschreibt. Darüber hinaus müsse auch das Lehrpersonal fachlich dafür ausgebildet sein, besondere Stärken und bestehende Entwicklungsbereiche der Kinder rechtzeitig zu erkennen. „Dafür müssen Lerninhalte über die individuelle und integrative Förderung von Lernprozessen in heterogenen Lerngruppen in den Aus-, Fort- und Weiterbildungen des pädagogischen Fachpersonals integriert werden.“
Dass es an all dem hapert, legt die steigende Exklusionsquoten nahe – heißt: Die Zahl der Schüler an Förderschulen wächst seit einigen Jahren wieder. Dabei loben sich einige Bundesländer dafür, immer mehr Förderschüler an Regelschulen zu unterrichten. Wie geht das zusammen? „In einigen Bundesländern sind die Inklusionsquoten in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen. Allerdings lässt sich gleichzeitig feststellen, dass die Zahl an Diagnosen für sonderpädagogischen Förderbedarf ebenfalls angestiegen ist, sodass mit einer steigenden Inklusionsquote nicht zwangsläufig ein Rückgang der Schüler/innenzahlen an Förderschulen einhergeht. In den meisten Bundesländern ist die Ressourcenverteilung an die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gekoppelt, was den zahlenmäßiger Anstieg erklären könnte.“ Im Klartext: Vermeintliche Erfolge bei der Inklusion existieren nur auf dem Papier.
Inklusion ist als Bereicherung zu sehen und zu leben
„Es geht bei der Inklusion nicht nur ums Lernen, sondern auch um soziale Interaktion, um Respekt, Partizipation, um Mitwirkung, um die aktive Gestaltung des eigenen Lebens“, sagt der Behindertenbeauftragte Dusel. Und er betont: „Schule hat die wichtige Aufgabe, Kindern den Wert einer demokratischen Gesellschaft zu vermitteln. Und genau das brauchen wir heute mehr denn je. Zu einer guten Demokratie gehört, Vielfalt und Inklusion als Bereicherung zu sehen und auch zu leben. Demokratie braucht Inklusion.“ In den meisten Bundesländern scheint die Botschaft noch nicht angekommen zu sein. Agentur für Bildungsjournalismus
Hier geht es zum Kinderrechte-Index des Deutschen Kinderhilfswerks.
Die meisten Bundesländer wollen mittlerweile Förderschulen auch langfristig erhalten – um Eltern ein Wahlrecht einzuräumen. Aus Sicht des Deutschen Kinderhilfswerks widerspricht das der Behindertenrechtskonvention.
Das Menschenrecht auf inklusive Bildung „steht den Kindern höchstpersönlich zu und entzieht sich damit der Verantwortung anderer; es steht auch nicht zur Disposition der Eltern“, so heißt es im „Kinderrechte-Index“. Die nach Art. 6 Abs. 2 GG gewährleistete Erziehungsverantwortung verpflichte die Eltern, das Kind „bei der Ausübung seiner Rechte zu leiten und zu führen“. Das gelte auch hinsichtlich des Menschenrechts, das Kindern mit und ohne Behinderungen diskriminierungsfreies Zusammenleben zusichert. „Aus dem Vorbehaltsverbot nach Art. 46 UN-BRK geht hervor, dass der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung umgekehrt Eltern kein Recht auf Segregation, d. h. Wahlmöglichkeit zwischen Regelschule und Förderschule, einräumt.“
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

