Website-Icon News4teachers

Schulen “sobald wie irgendmöglich” öffnen? Lehrer stellen sich dagegen: Leopoldina weiß nicht, wie es in der Praxis aussieht

BERLIN. So einmütig wie selten fällt die Reaktion von Lehrern auf das Gutachten der Leopoldina aus, in dem eine schrittweise Öffnung der Grundschulen und der Schulen der Sekundarstufe I „sobald wie irgendmöglich“ gefordert wird: ablehnend. Vor allem Praxisferne wird dem höchsten deutschen Wissenschaftler-Gremium attestiert, das am Montag sein Papier vorgelegt hatte – welches als wichtige Entscheidungsgrundlage für die heutigen Beratungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten über Lockerungen der Auflagen in der Coronakrise gilt (News4teachers berichtete). „Für uns ist offensichtlich, dass die im Raum stehenden Vorschläge, zunächst mit den jüngsten Schülerinnen und Schülern zu beginnen, nicht von der Expertise der Virologen und der Schulpraktiker geprägt sind“, meint etwa Horst Audritz, Vorsitzender des Philologenverbands Niedersachsen. Wir haben Stellungnahmen gesammelt.

Schulen schnellstmöglich öffnen? Lehrer sehen die Forderung kritisch. Foto: Shutterstock

Oliver Hintzen, stellvertretender Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg:

„In der Expertengruppe sind Psychologen, Bildungswissenschaftler, Theologen, Wirtschafts­wissenschaftler, Biologen, Physiker, aber leider niemand aus dem Bereich der Schullei­tung oder der Schulpraxis, der dem wissenschaftlichen Beirat aus der Realität berichten könnte. Klar ist, dass es nach den Osterferien in irgendeiner Weise weitergehen muss und dass in Schulen und Kindertageseinrichtungen auch noch bis auf unbestimmte Zeit die Notbetreuung aufrechterhalten und ggf. sogar noch ausgebaut werden muss. Was die Ad-hoc-Stellungnahme jedoch nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass insbeson­dere Grundschulkinder nicht nur für Deutsch und Mathematik in die Schule gehen, sondern auch, um endlich ihre Freunde wieder treffen zu können. Ältere Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und II haben in der Regel Verständnis dafür, warum sie auf Abstand gehen müssen. Jüngere Kinder suchen aber bewusst die Nähe und die Be­stätigung der Lehrkräfte, auch noch in der 4. Klassenstufe. Es muss daher gut überlegt werden, ob für die dann notwendigen vielen Kleingruppen genügend Personal für Be­treuung und Unterricht zur Verfügung steht, und dass diese Personen nicht zu den bekannten Risikogruppen gehören dürfen.“

Anzeige

Horst Audritz, Vorsitzender des Philologenverbands Niedersachsen:

„Es geht in der Hauptsache um den schnellen Ausstieg aus den Schulschließungen und um die Abfederung psychischer, sozialer und wirtschaftlicher Folgen der Krise. So sehr ein schrittweiser Ausstieg aus den Schutzmaßnahmen zu begrüßen ist, so gerne wir alle die vielen ungeklärten Fragen beantwortet hätten und zur Normalität zurückkehren möchten, so gefährlich erscheint dennoch eine vorschnelle Lockerung. Das Virus hält sich nicht an den Kalender und Prognosen, es reagiert auf günstige Bedingungen. Und die sind vorwiegend große Menschenansammlungen, große persönliche Nähe und mangelhafter Selbstschutz, alles was in Schulen schwerfällt. Es muss daher alles vermieden werden, um eine neue massenhafte Infektionswelle in Gang zu setzen.

Der Grundsatz muss aus unserer Sicht daher lauten: Nicht so früh wie möglich, sondern so sicher wie nötig zu handeln. Der Gesundheitsschutz muss absolute Priorität haben. Schulkinder dürfen das Virus nicht in die Elternhäuser tragen, Schutzausrüstungen müssen in den Schulen vorhanden sein, besonders gefährdete Lehrkräfte wären nur eingeschränkt einzusetzen, Mindestabstände wären einzuhalten, Gruppengrößen zu reduzieren und Hygienestandards strikt einzuhalten.

In der Praxis ist das schwierig bis unmöglich, selbst dann, wenn der Unterricht auf das Mindestmaß reduziert wird. Gefragt ist hier die Beratung durch Schulpraktiker. Auf keinen Fall ist zu akzeptieren, dass nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ verfahren wird.“

Jürgen Böhm, Bundesvorsitzender des Deutschen Realschullehrerverbands (VDR):

„Die Schulen müssen Vorkehrungen treffen können, damit ein Wiedereinstieg funktioniert.“ Dazu gehöre, dass die Schule nicht zuerst für die Jüngsten an den Grundschulen wieder öffnen dürfe, sondern zunächst mit den Schülerinnen und Schülern, die kurz vor ihrem Abschluss stehen. Eine Infektionsgefahr an Grundschulen oder auch in Kindertagesstätten hält Böhm für viel zu hoch.

Die Verantwortlichen seien gefragt, auf Länderebene einheitliche Lösungen zu finden, die jedoch die Grundstrukturen wie Ferien oder Abschlussprüfungen nicht angriffen oder in Frage stellten.

Stefan Behlau, Landesvorsitzender des VBE Nordrhein-Westfalen:

„Bei allen Überlegungen zur Wiederaufnahme des Unterrichts müssen der größtmögliche Schutz und die Gesundheit deutlich im Vordergrund stehen. Erst wenn diese gewährleistet sind, kann es zu einer stufenweisen Wiedereröffnung kommen.“

Reinhard Schwab, Vorsitzender des Hessischen Philologenverbands:

„Der Gesundheitsschutz muss bei der stufenweisen Rückkehr zum normalen Schulbetrieb absolute Priorität haben. Für eine verantwortungsvolle Öffnung nach den Osterferien sind die Schulen derzeit nicht vorbereitet. Unabhängig von der Frage, ob der Beginn des Schulbetriebes auf den kommenden Montag oder einen späteren Zeitpunkt fallen soll, ist völlig ungeklärt, wie ein wirksamer Infektionsschutz an den Schulen gewährleistet werden soll. Weder stehen den Schulen Mund-Nasenschutz-Masken noch Desinfektionsmittel in ausreichendem Maße zur Verfügung. Oftmals fehlt es sogar an Waschmöglichkeiten mit warmem Wasser und Seife. Klassenfrequenzen bis zu 30 Personen in einem Raum widersprechen dem Abstandsgebot. Für ‚Schichtunterricht‘ fehlen die nötigen Lehrkräfte. Schutzscheiben für Bedienstete sind auch nicht vorhanden. Lehrkräfte und Schülerschaft müssen wirksam vor Covid 19 geschützt werden können. Aus meiner Sicht wäre es verantwortungslos, diese Gruppen einem ungewissen Experiment auszusetzen.“

Der Hessische Philologenverband fordert daher eine Verlängerung der Schulschließungen mit entsprechender Vorbereitungszeit auf die Zeit „danach“, sukzessive Schulöffnungen nur mit entsprechenden Hygienekonzepten, den Ausbau und die Strukturierung des digitalen Unterrichts und klare Vorgaben für die Leistungsbewertung und die Versetzungsentscheidungen.

Joachim Maiß und Eugen Straubinger, Vorsitzende des Bundesverbands der Lehrkräfte für Berufsbildung (BvLB):

„Höchste Priorität hat der Gesundheitsschutz von Lehrkräften und Schülern. Daneben müssen die Risikogruppen klar benannt werden und die notwendigen hygienischen Bedingungen müssen dem Infektionsschutzgesetz genügen. Andernfalls kann der Unterricht an beruflichen Schulen nicht starten.

Zwischen Theorie und Praxis klaffen gleich zahlreiche Lücken. Der Weg zur Schule ist hochproblematisch. Wer öffentliche Verkehrsmittel nutzt, erhöht tagtäglich aufs Neue sein Infektionsrisiko und damit das seiner Mitmenschen. Tägliche Schnelltests vor dem Schulgebäude sind nicht realistisch und stehen auch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Der vorgeschriebene Zwei-Meter-Sicherheitsabstand in Klassenräumen hätte zur Folge, dass nur ein Drittel bis maximal die Hälfte einer Klasse gleichzeitig unterrichtet werden können. Um faire Chancen für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, hieße das: die Lehrkräfte müssten im Zwei- beziehungsweise Dreischichtbetrieb unterrichten. Was im Bildungsalltag unrealistisch ist.

In der beruflichen Bildung ist in den Bundesländern mal an festgelegten Wochentagen Unterricht oder aber Blockunterricht gängiger Standard. Die übrige Zeit der dualen Ausbildung findet in den Betrieben statt. Da ist zeitlich kein Spielraum, um Unterrichtseinheiten zu strecken oder zu verlegen. Und weiter: Ein Mundschutz für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler ist ebenso zwingender Bestandteil wie eine ausreichende Anzahl von Desinfektionsspendern im gesamten Schulgebäude. Die Frage der Verfügbarkeit treibt bereits das gesamte Gesundheitswesen um, beides ist Mangelware. Die sanitären Einrichtungen müssen neben der täglichen Grundreinigung mehrfach am Tag gesäubert und desinfiziert werden. Dafür müssen die Verträge mit den Reinigungsunternehmen ausgedehnt werden. Daneben müssen Einmal-Handtuchspender installiert und die Papierkörbe im Stundentakt geleert werden. Sämtliche Einrichtungsgegenstände – von Stühlen über Tische bis hin zu den Tastaturen der Computer – müssen nach jeder Unterrichtsstunde desinfiziert werden. Das ist nur ein Teil des Alltäglichen, der mitgedacht werden muss. Und hier brauchen wir bundesweit einheitliche Mindestanforderungen, ohne die der Schulalltag nicht funktionieren kann. Die Koordination all dessen braucht eine Vorlaufzeit von mindestens zwei Wochen. Alles andere wäre grob fahrlässig und kann von den Berufsbildern nicht mitgetragen werden.“ News4teachers

Schulen schnellstmöglich öffnen? GEW und VBE kritisieren Leopoldina: Vorschläge gehen an der Unterrichtsrealität vorbei!

Die mobile Version verlassen