ERFURT. Die Inklusion in Deutschland droht zu scheitern. Aktuelle Daten aus Thüringen geben jedenfalls Anlass zur Sorge: Im Freistaat ist der Anteil der sonderpädagogisch geförderten Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, deutlich gestiegen. Lehrerverbände kritisieren seit Langem, dass die Bedingungen für einen erfolgreichen gemeinsamen Unterricht an Regelschulen bundesweit nicht gegeben sind. Die GEW sieht darüber hinaus ein grundsätzliches Problem – und warnt davor, dass sich die Situation der Coronakrise noch verschlimmert.
In Thüringen verlassen immer mehr sonderpädagogisch geförderte Schüler die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss. Während am Ende des Schuljahres 2014/2015 noch etwa 53 Prozent von ihnen ohne Abschluss abgingen, waren dies 2018/2019 schon fast 61 Prozent, wie aus der Antwort des Thüringer Bildungsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hervorgeht. Der Anstieg betraf vor allem die Regelschulen. Aber auch an Förderschulen ist die Quote der Schulabbrecher gestiegen.
Schüler haben nach Angaben des Ministeriums dann einen sonderpädagogischen Förderbedarf, wenn sie «in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der Grundschule, der weiterführenden allgemein bildenden oder der berufsbildenden Schulen ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können». Das kann zum Beispiel bei Problemen beim Sehen oder Hören oder Defiziten in der Sprachentwicklung der Fall sein. Auch Kinder und Jugendliche, deren emotionale, soziale oder geistige Entwicklung gestört ist, benötigen zusätzliche pädagogische Unterstützung.
Im gemeinsamen Unterricht – “soweit es möglich ist”
Vom Bildungsministerium heißt es, betroffene Schüler würden im gemeinsamen Unterricht zum Beispiel in den Grund- und Regelschulen sowie den Gymnasien unterrichtet, soweit dies infolge ihrer Einschränkungen möglich sei. «Können sie dort auch mit Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste nicht ausreichend gefördert werden, sind sie in Förderschulen zu unterrichten, damit sie ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechende Schulabschlüsse erreichen können», steht auf einer Webseite des Ministeriums zum Unterricht dieser jungen Menschen.
Nach der Ministeriumsantwort auf die CDU-Anfrage ist allerdings besonders der gemeinsame Unterricht an den Regelschulen zuletzt immer häufiger nicht dazu in der Lage, diese Schüler zu einem Abschluss zu führen. Im Schuljahr 2018/19 betraf dies fast 59 Prozent der auf besondere Förderung angewiesenen Regelschüler, nachdem es 2014/15 noch 39 Prozent waren. An den Gemeinschaftsschulen stieg der Anteil der erfolglos geförderten Schüller im gleichen Zeitraum von etwa 41 auf fast 52 Prozent, an den Förderschulen von 58 auf etwa 64 Prozent.
An den Gymnasien dagegen schaffen in der Regel auch Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ihr Abitur: Innerhalb der vergangenen fünf Jahre erhielten nach Angaben des Ministeriums nur im Schuljahr 2016/2017 zwei Schüler keinen Abschluss, was einem Anteil von 15,4 Prozent der 13 Schüler mit Spezialbedarfen entspricht, die damals im Freistaat ein Gymnasium besucht hatten.
Schüler mit “atypischen pädagogischen Herausforderungen”
Die Gründe für die Entwicklung sind nach Angaben des Bildungsministeriums vielfältig. Nicht zuletzt schwierige soziale Bedingungen im Elternhaus bis hin zu Gewalterfahrungen oder häufige Schulwechsel der betroffenen Kinder und Jugendlichen gefährdeten ihre schulischen Erfolge. Nachteilig sei zudem, wenn Kinder mit «atypischen pädagogischen Herausforderungen» oder mit ungenügenden Deutschkenntnissen an einer Schule konzentriert würden. «Hier gelingt es nur schwer, den Bildungserfolg von den negativen und hemmenden Einflussfaktoren dieser Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen zu entkoppeln», schreibt das Ministerium in seiner Antwort. Insgesamt waren in Thüringen in den vergangenen fünf Jahren laut Ministerium etwa 1200 bis 1300 Schüler auf besondere Unterstützung angewiesen. Etwa 600 bis etwa 700 davon erhielten keinen Schulabschluss.
Lehrerverbände kritisieren seit Langem – und mit Blick auf ganz Deutschland –, dass die Ausstattung der Schulen vor allem mit Personal nicht ausreicht, um Inklusion erfolgreich zu gestalten. Die Gelingensbedingungen dafür seien schlicht nicht gegeben, so heißt es beispielsweise beim VBE. „Für gelingende Inklusion muss das Vertrauen der Lehrkräfte in dieses Konzept zurückgewonnen werden. Dafür bedarf es massiver Investitionen“, fordert der Verband, konkret in: die weitgehende Doppelbesetzung aus Lehrkraft und Sonderpädagoge, die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams, die schulbaulichen Voraussetzungen, kleinere Klassen und eine bessere Vorbereitung durch angemessene Aus-, Fort- und Weiterbildung.
“Gegen Vorgabe des gleichschrittigen Unterrichts ankämpfen”
GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann sieht darüber hinaus ein grundsätzliches Problem, an dem die Idee der schulischen Inklusion zu scheitern drohe. „Inklusion heißt, die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und Lernvoraussetzungen im Blick zu haben und die Hilfen und die Unterstützung zu bieten, die eine Teilhabe an den Bildungsangeboten ermöglicht“, so schreibt sie aktuell in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Rundschau“. „Überall arbeiten engagierte Lehrkräfte daran, dieses Ideal im Schulalltag umzusetzen. Sie müssen dabei immer gegen die bildungsministerielle Vorgabe des gleichschrittigen Unterrichts ankämpfen. Diese Art von Unterricht bewirkt jedoch das, was Kritiker der Inklusion vorwerfen: Gleichmacherei. Genauer: Angleichung an ein imaginäres Mittelschichtniveau, das in Vergleichstests alljährlich abgeprüft wird.“
Die aktuelle Corona-Krise verschärfe die Situation noch – besonders förderbedürftige Schüler verlören den Anschluss. „Hier muss alles getan werden, um den Kontakt zu den Lernenden und ihren Familien aufrechtzuerhalten. Persönliche Ansprache ist dabei wichtiger denn je. Es muss nach Wegen gesucht werden, Lernen aufrechtzuerhalten. Das Angebot muss sich nach den individuellen Bedingungen und Möglichkeiten richten. Vielleicht hilft es dem ein oder anderen Kind oder Jugendlichen, ein eigenes digitales Endgerät zu haben. Andere können mit analogen Materialien besser umgehen. Auch die materielle Unterstützung der Familien gehört dazu. Kinder, die nicht regelmäßig zu essen haben, können auch nicht lernen“, so schreibt Hoffmann.
„Es ist also wichtig, dass Sozialämter, Jugendhilfe und Schule auch in der Krise Hand in Hand arbeiten. Ein gemeinsames Krisenmanagement ist notwendig, sollen diese Kinder und Jugendlichen nicht völlig abgehängt werden.“ Doch das ist nicht in Sicht. News4teachers
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