BERLIN. Der Befund ist unstrittig: Es gibt im kommenden Schuljahr viel Lernstoff aufzuholen. Die entscheidende Frage allerdings lautet: Wie? Lehrerverbände streiten sich darüber, ob zunächst mal flächendeckend mit Leistungstests erhoben werden soll, woran es hapert – oder ob die Lehrer das individuell ausmachen sollen. Darüber hinaus ist unklar, wie überhaupt eine Förderung aussehen soll, die alle bedürftigen Schüler erreicht. Die Länder fürchten hohe Kosten und vermeiden derzeit konkrete Aussagen. Sie finanzieren bislang lediglich punktuelle Aktionen in den Sommerferien.
In einer bundesweiten Umfrage unter Lehrern aller Schulformen, die das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund in dieser Woche veröffentlichte, gaben vier von fünf (79 Prozent) an, dass die Schüler in vielen Fächern weniger gelernt haben als während des Regelunterrichts. Sogar 90 Prozent der Lehrkräfte stimmten der Aussage teils beziehungsweise komplett zu, dass sich die sozial bedingten Ungleichheiten aufgrund der Corona-Pandemie verstärkt haben. Studienleiterin Professorin Nele McElvany befand: „Das ist ein erschreckendes Ergebnis und bestätigt die Befürchtungen vieler Bildungsexperten.“ (News4teachers berichtete ausführlich über die Studie – und zwar hier.)
Wie sollen die Schulen mit dem Befund umgehen? Wie lassen sich die Lücken wieder schließen? Die KMK hat das Thema auf ihrer Sitzung am Donnerstag und Freitag behandelt. Ergebnis ist folgender Beschluss: „Die Länder ergreifen geeignete Maßnahmen, um mögliche Lernrückstände zu überwinden.“ Welche Maßnahmen sind das? Dazu wollen sich die Minister „fortlaufend beraten“ lassen, so heißt es im Sitzungsprotokoll. Im Klartext: Man weiß es nicht; es gibt bislang keinen länderübergreifenden Plan.
Lehrerverband: Verpflichtende Leistungstests für alle Schüler
„Wir werden auch im nächsten Schuljahr damit zu tun haben, die Lücken zu schließen, die das Homeschooling in den Wissensstand der Schüler gerissen hat“, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“. Er schlägt vor: «Für Schüler mit starken Defiziten muss es verpflichtende Förderangebote geben, die zum Beispiel am Nachmittag stattfinden können.» Um festzustellen, welche Schüler das sind, sollten verpflichtende Leistungstests für alle Schüler nach den Sommerferien stattfinden.
Dagegen regt sich allerdings Widerstand. Die GEW Schleswig-Holstein lehnt verpflichtende Leistungstest für alle Schüler ab. Die Lehrer vor Ort wüssten in der Regel am besten, welche konkreten Hilfen ihre Schüler nötig haben. Es gebe auch sinnvolle Einzelverfahren, um individuelle Lernstände zu erheben. «Verbindliche standardisierte Leistungstests für alle Schülerinnen und Schüler nach dem Motto ‚Nun wollen wir mal sehen, was ihr alle so könnt!‘ halten wir deshalb für verzichtbar», sagt Henke.
Auch beim Förderunterricht, den die GEW ebenfalls für dringend geboten hält, setzt die Gewerkschaft auf individuelle Maßnahmen. Wichtig sei es, den Schülern eigenständiges Lernen zu ermöglichen und ihre Methodenkompetenz zu stärken – auch mit Blick darauf, dass das Schuljahr durch Corona-Ausbrüche immer wieder unterbrochen werden könnte. «Die Einrichtung von Lernbüros ist hier eine geeignete Maßnahme», sagte Henke. Dort unterstützen Lehrkräfte die Schüler beim selbstorganisierten Lernen. «Das könnte entscheidend dazu beitragen, Schülerinnen und Schüler auf erneute Schulschließungen vorzubereiten.»
Mehr Lehrerstellen? Kultusminister flüchten sich in Allgemeinplätze
Die Crux: Fördermaßnahmen – egal welche – sind nicht umsonst zu haben. Sowohl der Deutsche Lehrerverband als auch die GEW fordern dafür mehr Personal für die Schulen. Das stößt bei den Landesregierungen allerdings auf wenig Gegenliebe. So flüchten sich die Kultusminister derzeit, wenn sie sich überhaupt zum Problem äußern, in Allgemeinplätze.
Beispiel Brandenburg. Mit der Wiederaufnahme des Schulbetriebs nach den Sommerferien sollen die Schüler zusätzlich gefördert werden – stellte Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) am Donnerstag im Potsdamer Landtag fest. «Dazu sollen die Schulen in der letzten Ferienwoche eine Dokumentation der vermittelten Inhalte erstellen und in der ersten Schulwoche das Wissen der Schüler in den Kernfächern ermitteln», erklärte sie. Anschließend solle an den Schulen ein Konzept für die dann notwendige individuelle Förderung der Schüler erstellt werden.
Welche Maßnahmen kommen dafür denn konkret infrage? Achselzucken. Erst nach den Ergebnissen der Untersuchungen werde darüber entschieden, ob es vielleicht auch an Samstagen oder in den Herbstferien Förderunterricht geben müsse, sagte Ernst – gab aber zu erkennen, dass sie ein Unterrichtsangebot am Wochenende wegen der Beeinträchtigung für das Familienleben grundsätzlich kritisch sieht.
Die Ferienangebot werden nicht reichen
So setzen die Länder derzeit konkret nur auf punktuelle Angebote in den Ferien. «Wir müssen davon ausgehen, dass trotz der vielseitigen Bemühungen in der häuslichen Lernzeit und der seit einigen Wochen wieder aufgenommenen Präsenzphasen bei den Schülern der weiterführenden Schulen Bildungsdefizite unterschiedlicher Art entstanden sind», sagt Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) in dieser Woche. Viele Eltern seien darüber in Sorge. Seine Lösung: das Programm „Sommerschule“, in dessen Rahmen die Lehrer von Oberschulen, Gymnasien und Förderschulen freiwillig (und unter Einbeziehung externer Partner) Unterrichtsangebote machen sollen.
Elf Millionen Euro stellt der Freistaat dafür zur Verfügung. Dass das nicht reichen wird, die entstandenen Defizite auszugleichen, ist Piwarz klar. „Das wird Aufgabe der Schulen im kommenden Schuljahr sein“, sagt der Minister einem Bericht des mdr zufolge. Jede Schule solle prüfen, welche besonderen Bildungsangebote sie für ihre Schüler hilfreich fände – und solle die Angebote dann eigenverantwortlich umsetzen.
Auch andere Bundesländer setzen bislang nur auf Ferienunterricht. In Rheinland-Pfalz werden dafür Lehramtsstudierenden und -anwärtern sowie Lehrkräfte, pensionierten Lehrkräften oder auch ältere Schülerinnen und Schülern herangezogen, „die dafür vorher geschult werden sollen“, wie das Ministerium versichert. Mecklenburg-Vorpommern spannt private Nachhilfe-Institute ein. Schüler und Eltern wurden per Rundbrief informiert, dass sie die Leistungen privater Lernanbieter in Anspruch nehmen können. Berechtigungsscheine gibt es zum Herunterladen. Das Land stellt zur Finanzierung eine Million Euro bereit.
Förderangebote gibt es so nur für einen Bruchteil der Schüler
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hat die Schulen ihres Landes aufgerufen, mit freiwilligen Unterrichtsangeboten in den Sommerferien die Schüler auf das kommende Schuljahr vorzubereiten. Das Land hat dafür fünf Millionen Euro bereitgestellt. Lehrer sollen damit zusätzlich vergütet werden. Auch Lehramts-Studenten können an dem Programm für Schüler der 1. bis 10. Klassen teilnehmen. Darüber hinaus erhalten die Schulen ein zusätzliches Budget, um externe Angebote von kultureller Bildung oder sportliche Aktivitäten anbieten zu können. Immerhin: Jede fünfte Schule im Land hat ihre Bereitschaft erklärt, sich an dem „Lernsommer“ zu beteiligen.
Heißt aber auch (wie die oppositionelle SPD kritisiert): Angebote gibt es nur für einen Bruchteil der Schüler im Land. «Ob die Teilnehmenden dann die sein werden, die zu Hause nicht die besten Voraussetzungen zum Lernen und zum digitalen Unterricht vorfinden, steht in den Sternen.» News4teachers / mit Material der dpa
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.
Planlos ins nächste Schuljahr: Wie die Kultusminister sich in Corona-Zeiten blamieren