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Am Montag startet ein gigantisches Experiment: das neue Schuljahr – mit Millionen Schülern und Lehrern ohne den üblichen Corona-Schutz

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BERLIN. Am Montag startet das neue Schuljahr im ersten Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern – ein gigantisches Experiment. Während Großveranstaltungen nach wie vor bundesweit untersagt sind, kommen in den nächsten Wochen in Deutschland insgesamt rund elf Millionen Schüler und 800.000 Lehrer zum Regelunterricht ohne Abstand und Mund-Nasen-Masken zusammen. Und schon jetzt steigen die Corona-Infektionszahlen wieder. Das Robert-Koch-Institut zeigt sich nervös.

Keine Abstandsregel, keine Maskenpflicht: Der Regelbetrieb in Deutschlands Schulen ist ein großer Feldversuch – mit ungewissem Ausgang. Foto: Shutterstock

Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen in Deutschland hat sich das Robert-Koch-Institut (RKI) alarmiert gezeigt. „Die neueste Entwicklung der Fallzahlen macht mir und allen im Robert-Koch-Institut große Sorgen“, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler am Dienstag in Berlin vor Journalisten. „Wir sind mitten in einer sich rasant entwickelnden Pandemie“, warnte er.

Der Anstieg sei nicht auf einen Hotspot zurückzuführen, er betreffe viele Bundesländer, sei „diffus“. Wieler ruft daher erneut dazu auf, die AHA-Regeln zu befolgen. AHA steht für: Abstand, Hygiene, Atemschutz. Das bedeutet mindestens 1,5 Meter Abstand zu anderen Menschen zu halten, die Hygieneregeln wie regelmäßiges Händewaschen zu beachten und eine Mund-Nasen-Bedeckung dort zu tragen, wo die Abstandsregel nicht sicher eingehalten werden kann. Wieler: „Lassen Sie uns erreichen, dass möglichst wenige erkranken, dass wir möglichst wenige durch diese Krankheit verlieren.“

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Die KMK hat einen schulischen Regelbetrieb beschlossen

In dieser Situation beginnt am kommenden Montag ein Experiment, in das insgesamt elf Millionen Kinder und Jugendliche sowie 800.000 Lehrer einbezogen sind: das neue Schuljahr. Mit Mecklenburg-Vorpommern startet das erste Bundesland in einen schulischen Regelbetrieb, wie ihn die KMK für alle 16 Bundesländer beschlossen hat – ohne Abstand, ohne Mund-Nasen-Schutz in den Klassenräumen. Ein gigantischer Feldversuch mit ungewissem Ausgang.

Es sei wichtig, dass man Klassenverbünde zusammenhalte und die Klassen nicht mische, sagte RKI-Chef Wieler. Es müssten sogenannte „epidemiologische Einheiten“ gebildet werden. Auch in der Freizeit sei es sinnvoll, wenn sich Schüler dann nur mit den Schülern treffen, mit denen sie schon in der Schule waren.

Praxisnah ist das nicht. In Schleswig-Holstein beispielsweise ist Unterricht in festen Klassenverbünden nur in der Grundschule vorgesehen – in den weiterführenden Schulen werden die sogenannten “Kohorten” größer ausfallen. In Niedersachsen darf eine Kohorte einen Schuljahrgang umfassen. Im Berliner Hygieneplan heißt es: “Der Unterricht und die ergänzende Förderung und Betreuung sind in festen Gruppen bzw. Lerngruppen durchzuführen, um Kontakte soweit wie möglich zu reduzieren.” Die Einschränkung: “soweit organisatorisch möglich…”.

Eine Ärztelobby trommelt seit Monaten für weite Schulöffnungen. Sie beruft sich dabei auf Studien, die gezeigt hätten, dass Kinder weniger infektiös seien als Erwachsene – und deshalb nicht als Treiber des Infektionsgeschehens anzusehen seien. Und das verfängt bei Bildungspolitikern, die alle Kraft daransetzen, die Schulen ungeachtet aller Warnungen wieder in Regelbetrieb zu bringen (News4teachers berichtete mehrfach ausführlich darüber – hier zum Beispiel).

„Wir sehen, wie sich das Infektionsgeschehen bei Schülerinnen und Schülern entwickelt“, sagt beispielsweise NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) in einem aktuellen Interview mit Radio Bonn/Rhein-Sieg. „Zwischen eins und zehn ist kaum ein Ansteckungsrisiko vorhanden“, behauptet sie. „Die letzte Studie, die wir in diesem Zusammenhang gesehen haben, ist die Studie aus Sachsen, aus Dresden, wo mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte getestet worden sind, und die hat nochmal ganz eindeutig bestätigt, was alle anderen Studien bisher auch bestätigt haben, dass das Infektionsgeschehen gen null läuft in dieser Alterskohorte.“

Das RKI sieht keinen Beleg dafür, dass Schüler weniger infektiös seien

Das ist sachlich falsch. Das RKI warnt auf seiner Homepage davor (Stand: 24. Juli), Studien wie die der TU Dresden – die lediglich ein regionales Geschehen in einem besonderen Zeitraum abbilden und keineswegs generalisierbar sind – überzubewerten. Zumal es auch Studien gibt, die Kindern durchaus eine Rolle bei der Weiterverbreitung des Virus bescheinigen.

Wörtlich heißt es bei der Bundesbehörde, die den Stand der Forschung regelmäßig sichtet und zusammenträgt: „Die auf PCR-Testung basierende Prävalenz als Ausdruck aktiver Krankheitsgeschehen liegt bei Kindern in den meisten Studien niedriger als bei Erwachsenen. In serologischen Studien, welche überstandene Infektionen anhand von Antikörpernachweisen abbilden sollen, zeigt sich kein einheitliches Bild: teils hatten Kinder ähnliche Seroprävalenzen wie Erwachsene, teilweise zeigte sich bei Kindern unter 10 Jahren im Vergleich eine niedrigere Seroprävalenz. Zu beachten ist, dass hier neben der Empfänglichkeit für eine Infektion auch Anzahl und Art der Kontakte eine Rolle spielen. Da die Studien meist während oder im Anschluss an Kontaktbeschränkungen bzw. Lockdown-Situationen durchgeführt wurden, ist die Übertragbarkeit auf den Alltag begrenzt.“

Im Klartext: Es könnte gut sein, dass die behauptete Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber dem Coronavirus lediglich auf geringere Ansteckungszahlen durch verminderte Sozialkontakte während der Kita- und Schulschließungen zurückzuführen sind. Es gibt jedenfalls keinen wissenschaftlichen Befund, aus dem sich schließen ließe, wie sich die jetzt anstehenden Schulöffnungen auf das Pandemiegeschehen in Deutschland auswirken werden – und schon gar nicht, was passiert, wenn Infektionen in größerer Zahl in die insgesamt mehr als 32.000 Schulen in Deutschland hineingetragen werden.

Und was ist mit den älteren Schülern? “Nachverfolgung”

Zur Vorsicht besteht allerdings Grund genug. So heißt es beim RKI: „Die Infektiosität im Kindesalter wurde bisher selten untersucht und kann daher nicht abschließend bewertet werden. Die bisherigen Studien zeigen, dass Kinder meist von Erwachsenen infiziert werden; in Haushaltscluster-Untersuchungen wurden aber auch Kinder als Indexfall identifiziert. Da in Haushaltskontaktuntersuchungen nur symptomatische Personen als Indexfall gewertet werden, ist eine Unterschätzung der Eintragung durch Kinder in die Familien denkbar.“ Und weiter heißt es: „In einer Studie aus Südkorea steckten ältere Kinder und Jugendliche andere Haushaltsmitglieder ähnlich häufig an wie Erwachsene. In einer weiteren Studie aus Wuhan steckten Indexpersonen im Kindesalter häufiger Haushaltsmitglieder an als Erwachsene. Studien zur Viruslast bei Kindern zeigen keinen wesentlichen Unterschied zu Erwachsenen.“

Zudem: Kinder unter zehn Jahren, die angeblich so gut wie immun sind, werden nur an Grundschulen beschult – das Gros der Schülerschaft ist älter und geht auf weiterführende Schulen. „Bei den älteren Schülerinnen und Schüler setzen wir dann auf die Nachverfolgung“, sagt Ministerin Gebauer. Im Umkehrschluss: Corona-Prävention findet in den Sekundarstufen I und II praktisch gar nicht mehr statt. Man lässt also laufen und schaut dann mal. Ein gigantisches Experiment. News4teachers

Hier geht es zur Übersicht des Robert-Koch-Instituts zum aktuellen Stand der Corona-Forschung.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Spiel mit dem Feuer: Wenn sich die Schulen als Infektionstreiber erweisen, steht Deutschland ein schlimmer Corona-Herbst bevor

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