BERLIN. Besonders viel unternommen, um den Präsenzunterricht zu sichern, haben die Landesregierungen nicht – allen Beteuerungen über die Bedeutung der Bildung zum Trotz. Schlimmer noch: Ihr derzeitiges Engagement erschöpft sich in Aussagen, die Schulen möglichst schnell möglichst weit öffnen zu wollen. Einer News4teachers-Leserin, Gymnasiallehrerin von Beruf und selbst Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und Frau eines Grundschullehrers, platzt jetzt der Kragen. Sie fordert von den Kultusministern in ihrem Gastkommentar auf News4teachers: Hört auf, Familien zu Opfern zu stilisieren – helft ihnen lieber!
Familien in der Krise?!
Schulen auf, Schulen zu, Schulen ein bisschen auf. Mundschutz auf, Mundschutz bei Inzidenz unter 50 wieder ab, Mundschutz im Schulflur, nicht am Sitzplatz.
Kinder brauchen Mimik. Kinder brauchen Gesichter. Kinder brauchen Beziehung.
Die Klasse ist eine Kohorte, die Klasse ist doch keine Kohorte mehr, auf dem Schulhof soll sie aber wieder als Kohorte zusammenstehen.
Kinder haben ein Recht auf Bildung. Kinder brauchen soziale Kontakte. Jugendliche brauchen Abschlüsse.
Die Organisation „Familien in der Krise“ will geöffnete Schulen. Unabhängig vom Inzidenzwert. Ebenso Frau Eisenmann aus BaWü und Frau Scheeres aus Berlin. Frau Gebauer aus NRW auch.
Keine Masken? Stofflappen? FFP 2 Masken? Gasmasken?
Atteste wegen Maskenpflicht – wegen Migräne, Allergie oder Unlust.
Was ist in diesem einen Jahr der Pandemie passiert? Im Kopf von Schülern, Lehrern und Familien?
Und in Familien lebt man immer nach dem Motto „Wir fahren auf Sicht“
Familien sind die kleinste soziale Organisationseinheit, die für sich funktioniert. Egal, ob alleinerziehend oder nicht. Dagegen lässt sich nichts sagen. Und in Familien lebt man immer nach dem Motto „wir fahren auf Sicht“. Kind krank? Krank melden, betreuen. Kind in der Pubertät ist verzweifelt? Man sagt Konferenzen ab und redet mit dem Kind. Kind will ein Haustier? Man denkt lange nach. Gemeinsam. Kind hat Koliken? Man erkundigt sich überall, was da helfen kann. Muss man gar in die Klinik?
Wenn jemand also improvisieren kann, sind es Familien. Studentenfamilien, die trotz Studium und Finanznot sich dafür entscheiden, eine junge Familie zu sein, Familien, die noch einen Nachzögling bekommen, wenn die anderen Kinder schon groß sind und ihr ganzes Leben neu ausrichten müssen. Familien, die durch Scheidung eine neue Ausrichtung erhalten und sich neu ausbauen müssen.
In den Medien liest man: Familien in der Krise, die armen Familien müssen alles ausbaden in der Pandemie und begründet wird dies damit, dass geschlossene Schulen Familien in Krisen stürzen.
Falsch.
Eine Familie ist von Anfang an eine Lebensgemeinschaft und das Leben ist voller Höhen und Tiefen. Ich rede nun nicht vom wirtschaftlichen Faktor, der sicherlich auch eine wichtige Rolle spielt. Ich rede hier davon, dass Familien entmündigt werden in diesen Zeiten, dadurch, dass sie durch Meldungen zu Opfern stilisiert werden und dadurch manipuliert werden, sich gefälligst auch als Opfer zu fühlen. Weil die Kinder nicht ihre verlässliche Ganztagsbetreuung haben, weil es kein Mittagessen im Hort gibt, weil es anstrengend ist mit Kindern nonstop in einer Wohnung zu sein, sind Familien in der Krise?
In einer Pandemie benötigen Familien positive, mentale Unterstützung – keine Opferrolle
Wieso brauchen wir Opferrollen, die man sich künstlich aneignet? Das ist unfair. Das ist falsch. Und in einer Pandemie, in der besonders Familien positive, mentale Unterstützung brauchen, kann man Familien nicht für die politische Idee instrumentalisieren, dass offene Schulen DIE Lösung seien. Jeden nervt die Pandemie. Jeder fühlt sich und ist eingeschränkt. Homeoffice und Kinder betreuen im Distanzlernen kann sehr belastend sein.
Dass Kinder und Jugendliche und deren Familien aber kein Recht auf Infektionsschutz haben, ist außerordentlicher harter Tobak. Dass Kinder bei der B117-Covid-Variante eine besonders starke Rolle spielen, wird in allen bislang dazu veröffentlichten Studien angenommen. Dass 76 Prozent aller an Corona Erkrankten Langzeitsymptome haben, ist belegt. Die Infektionen nehmen nach wie vor von Tag zu Tag zu, die Todeszahlen auch.
Warum dann also ein Lockdown, der keiner ist? Warum wird alles herunter gefahren, aber die Schulen in Niedersachsen öffnen zunächst für Abschlussklassen, ab dem 18.1. dann auch für Grundschüler und Förderschüler? Dies widerspricht dem am 5.1. beschlossenen Lockdown mit der Kanzlerin. Sind Niedersachsens Familien weniger schützenswert als die in NRW, Hessen und Sachsen und Bayern?
„Kinder haben oberste Priorität“, behauptet Niedesachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne. Nun, dann lasst sie zu Hause, führt eine Notbetreuung ein für alle, die es brauchen und geht dann in einen echten LOCKDOWN, damit die Zahlen endlich runter gehen. So aber wird das nichts. Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Charité, hat klar und deutlich gemacht, was von dieser Beschwichtigungspolitik zu halten ist.
Denkt Unterricht neu, anders. Bildung ist nicht mit schulischer Betreuung gleichzusetzen. Und wenn wir in ein Paar Jahren zurückschauen werden auf diese Zeiten, dann werden wir nicht verstehen, wie wegen Weihnachtsferien, die vier Tage vorgezogen werden, so ein Rummel gemacht worden ist. Dass Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern leiden, weil man sich eine Weile nicht real sieht, ist auch nicht wahr.
Lasst uns darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller wäre, Prüfungen auszusetzen, einfach mal so zu leben, wie es gerade eben angemessen ist und nicht so krampfhaft an etwas festzuhalten, was gerade nicht durchsetzbar ist: Verlässlichkeit in den Aussagen zum Präsenzunterricht.
Wir müssen uns gerade eben anpassen – jedes Leben ist schützenswert!
Unterstützt Familien mit Spielepaketen, mit Finanzen, mit guter Laune, Durchhalteparolen, wenn sie benötigt werden, mit Sportprogrammen, mit Sozialpädagogen, die einige Kinder zu Hause besuchen können, mit digitalen Endgeräten für Distanzlernen.
Aber propagiert nicht, dass geschlossene Schulen zum jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe seien. Wir müssen uns gerade eben anpassen. Die Pandemie ist weltweit präsent. Die Schulen sind in Großbritannien zu, in den Niederlanden, selbst in Schweden geschlossen. Jedes Leben ist schützenswert. Eine Gesellschaft zeigt ihr wahres Gesicht, wie sie mit denen umgeht, die nicht für sich selbst sprechen können: Alte, Kinder und Kranke.
Der Frühling wird kommen und die kleineren Inzidenzwerte hoffentlich auch.
Eine Lehrerin, die Mutter zweier schulpflichtiger Kinder und Lehrersgattin ist und anonym bleiben möchte.
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