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Ein Dutzend Jahre Inklusionsprozess: Kein Paradies in Sicht. Ein Gastbeitrag

KÖLN. Schaut man hierzulande auf das Thema Inklusion, ergibt sich schnell ein Bild, das an den Versuch der Digitalisierung von Schule erinnert: Es gibt trotz Fortschritten noch viel zu tun. Der emeritierte Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm hat in seinem neuen Buch die Entwicklung der Inklusion in Deutschland nachgezeichnet. Unser Gastautor Michael Felten hat Klemms Erkenntnisse für News4teachers kritisch unter die Lupe genommen – eine Streitschrift.  

Die Inklusion scheitert allzu oft an den Rahmenbedingungen in den Schulen. Foto: Shutterstock

Seit 12 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention hierzulande Bundesgesetz – aber jede Euphorie in Sachen Inklusive Bildung ist verflogen. Zwar wird von Theoretikern und Aktivisten fleißig publiziert und agiert, an Sonderpädagogen und förderfähigen Regellehrern fehlt es indes allerorten. Dass der zweite Schritt (Systemänderung) vor dem ersten (Personalrekrutierung) inszeniert wurde, rächt sich anhaltend – und förderbedürftige Schüler wie engagierte Lehrer dürfen die überstürzte Aktion noch lange ausbaden.

In dieser Situation untersucht Klaus Klemm – emeritierter Erziehungswissenschaftler, Gutachter für die Bertelsmann-Stiftung und erklärter Freund dieses umstrittensten Bildungsprojekts der letzten 50 Jahre -, wie weit die deutschen Bundesländer auf dem Weg zur inklusiven Schule vorangekommen sind. Dafür sichtet er die historische Entwicklung, Schulgesetze und Schulstatistik, Eltern- und Lehrkräftebefragungen sowie Befunde der Unterrichtsforschung – und man darf gespannt sein, ob er die ganze Wahrheit sagt.

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Grundschule versus Sekundarstufe

Für den gegenwärtigen Forschungsstand beschränkt sich Klemm auf ausgewählte Untersuchungen, genauer gesagt nur zwei: die Längsschnittstudie BeLief und die Querschnittstudie des IQB (beide 2017). Über die Sekundarstufe wisse man noch kaum Verlässliches; im Grundschulbereich indes würden viele Förderschüler überwiegend von Gemeinsamem Lernen profitieren – und Schülern ohne Förderbedarf würde die Inklusion nicht schaden. Dass diese Befunde auf schwachen Füßen stehen könnten, lässt Klemm aber nicht unerwähnt – in den Schulen des Gemeinsamen Lernens (mit den ‘besseren’ Ergebnissen) wurden wohl primär leichtere Förder’fälle’ unterrichtet, an der Förderschule hingegen die schwereren.

Schlecht aufgehoben? Hauptsache inkludiert!

Klemm belegt auch mit mehreren Umfragen, was der Basis nur allzu bekannt ist: Dass nämlich das Personal in der Inklusion bislang hinten und vorne nicht reicht – erst recht bei größerer Ausweitung der Inklusion nicht genügen würde.  Angesichts der zunehmenden Unbeliebtheit des Lehrberufs (auch aus Überdruss an verkorksten Schulreformen?) ist hier ja auch kein großer Umschwung zu erwarten. Resümee und Perspektive für die Inklusion in Deutschland müssten also eigentlich recht skeptisch ausfallen.

Das scheint indes zu viel verlangt. Klemm konstatiert nämlich mit Bedauern, dass eine Handvoll Bundesländer partout nicht den Ressourcenvorbehalt fallen lassen wollen – ihnen also keineswegs egal ist, ob die formal inkludierten Schüler auch de facto gut aufgehoben sind. Lobend verweist er dagegen auf Bundesländer, die ihre Exklusionsquote drastisch reduziert haben und sie weiter senken wollen – obwohl man vor Ort erfahren könnte, wie die dortige Statistik auch separierende Beschulungsformen als Inklusion kaschiert. Eigentlich ständen jedenfalls fast alle Beteiligten positiv zur Inklusion – dabei variiert die Zustimmung tatsächlich ganz erheblich, je nach Förderschwerpunkt und eigenem Betroffensein.

Klemms Schlussfolgerung klingt also einigermaßen ungeniert: Weiter so, nur mehr von demselben. Schwer zu sagen, ob das jetzt Ideologie pur ist – das Dogma gilt, unabhängig von den tatsächlichen Verheerungen. Oder einfach die Concorde-Falle – jetzt haben wir schon so viel investiert, da muss man weitermachen, sonst droht Gesichtsverlust.

Es bleiben Ungereimtheiten

Auch im Detail bleiben Fragen, wenn nicht Ungereimtheiten. Das Rügener Inklusionsmodell, immerhin ein großer Flächenversuch in Sachen Inklusion, berücksichtigt Klemm gar nicht. Vielleicht weil sich herausgestellt hatte, dass die Lehrkräfte der Grundschule dabei so extrem belastet waren, dass sogar die GEW protestierte? Oder weil sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass die Ergebnisse für die Sekundarstufe nichts taugten – ab Klasse 5 hatte man nämlich stillschweigend auf die Kontrollgruppe verzichtet. Vielleicht aber auch, weil das Modell von Puristen als Verrat an der Idee radikaler Inklusion gegeißelt wurde – es fo­kussiere primär auf Defizite und sei letztlich erneut segregie­rend.

Elternbefragungen als Indikator für Unterrichtsqualität

Sodann bleibt schleierhaft, wie man als Wissenschaftler auf die Idee kommen kann, Unterrichtsqualität als etwas anzusehen, was sich durch Elternbefragungen einschätzen ließe (Kapitel 6.1). Spätestens seit der Hattie-Studie (2009/dt. 2013) ist eigentlich Forscherkonsens, dass Lernerfolge nicht mit Oberflächenmerkmalen, also Sichtstrukturen des Unterrichts korrelieren (ob’s etwa Plenums-  oder Stillarbeit gibt, selbstgesteuertes Lernen oder differenzierende Wochenplanarbeit). Entscheidend sind vielmehr die nur indirekt beobachtbare, nur mit Expertise festzustellenden Tiefenstrukturen des Unterrichts: Klassenführung, Fehlerkultur, Unterstützungsqualität (IQB-Bildungstrend 2018). Hinzukommen müssten eigentlich Befunde über erzielte Lernergebnisse und das Befinden der Lernenden – sonst landet man zu schnell beim Fehlschluss ‘Klingt gut/Sieht gut aus – wirkt gut’.

Ebenso zweifelhaft ist, dass das “Urteil einer breiteren Öffentlichkeit” (Kapitel 8.1) lediglich einer infas-Umfrage im Auftrag von ZEIT & Aktion Mensch entnommen wird – sowie einem Kurzverweis auf das IFO-Bildungsbarometer (beide 2019). Das mögen die positivsten öffentlichen Stimmen zum Thema sein – aber es gäbe vielerlei Anderslautendes zu berichten: etwa die Petition einer Mutter aus dem Sauerland, die 2014 unter dem Motto “Frau Löhrmann: Erhalten Sie die Förderschulen in NRW!” im Handumdrehn 16.454 Unterstützer fand; oder die Info-Plattform “Inklusion-als-Problem”, die seit 2015 zu einem zentralen Auskunftsmedium für kritische Nachrichten zur Inklusion wurde; oder die Elterninitiative “Rettet die Inklusion!”, die sich medienwirksam gegen die Fortführung der Radikalinklusion in NRW wehrte – was dort nach dem Regierungswechsel 2017 zu einer Neuausrichtung der Inklusiven Bildung führte (Stichworte: Qualitätskontrolle, Schwerpunktschulen).

Lehrkräfte anwerben statt publizieren!

Klemms Blick in die Zukunft ist düster, er befürchtet ein weitgehendes “Ausbremsen” des Inklusionsprozesses. Warum nur ist er nicht auf die Idee gekommen, allen akademischen Nicht-Macherinnen und -Machern im Themenfeld Inklusion einen Floh ins Ohr zu setzen? Sie mögen ein halbes Jahr lang aufs wohlfeile Publizieren verzichten – und sich ausschließlich damit beschäftigen, wie man mehr guten Nachwuchs in die Schulen locken könnte. Etwa, indem clevere Werbekampagnen für den Lehrberuf inszeniert würden. Inklusive Bildung steht und fällt nämlich mit der Personalfrage.

Klaus Klemm | Inklusion in Deutschlands Schulen | Entwicklungen – Erfahrungen – Erwartungen | 2021

Über den Autor
Michael Felten. Foto: privat

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten hat mehr als 30 Jahre am Gymnasiumunterrichtet und ist jetzt als freier Schulentwicklungsberater tätig.

Letzte Veröffentlichungen: “Die Inklusionsfalle” (Gütersloh 2017) sowie “Unterricht ist Beziehungssache” (Reclam 2020).

Online: www.inklusion-als-problem.de, “FeltensLehrerClips” bei YouTube und Lehrer_Felten_empfiehlt bei Instagram.

Fünf Gründe, warum sich Lehrkräfte und Eltern für Inklusion engagieren sollten

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