MÜNCHEN. „Diese Analyse ist eine kräftige Watschn für die bisherige Schulschließungs-Politik des Kanzleramts!“ – behauptet „Bild“. Und berichtet: „Statistiker der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München stellen fest: In der Corona-Pandemie sind offene Schulen sicherer als geschlossene!“ Erste Reaktion aus der Politik: Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) fordert Bund und Länder zu einer Kehrtwende in der Corona-Schulpolitik auf – und verlangt, die gerade erst eingeführte Notbremse für den Bildungsbetrieb zu streichen. In Bayern gibt es auch schon eine erste Konsequenz.
„Aus statistisch-epidemiologischer Sicht ist es nicht richtig, die Schulen wie in Bayern ab einem Inzidenzwert von 100 zu schließen“, sagt Prof. Göran Kauermann, Direktor des Instituts für Statistik an der Münchner LMU in einem Interview mit dem „Merkur“. Auch die bundesweit geltende Notbremse ab einer Inzidenz von 165 lehnt der Statistiker offenbar ab. Denn: „Unsere Analysen zeigen klar, dass offene Schulen sogar zur Pandemiebekämpfung beitragen, solange dort verpflichtend und dicht getestet wird. Man findet auf diese Weise nämlich zwei- bis dreimal so viele infizierte Kinder und Jugendliche.“ Heißt also: Kauermann plädiert dafür, den Schulbetrieb zu nutzen, um die Pandemie einzugrenzen.
Ausdrücklich gefragt, ob er die Schule also als Testzentrum sieht, antwortet er: „Wir haben uns die erste Woche nach den Osterferien angesehen. Die Inzidenzen bei den Kindern, die in dieser Woche zur Schule gegangen sind und dort getestet wurden sind deutlich angestiegen. Diese gefundenen Infektionen können aufgrund der Inkubationszeit von ca. fünf Tagen nicht auf Infektionen an der Schule zurückgeführt werden. In der Schule wurden sie dann aber durch die Testpflicht gefunden.“ Und weiter: „Wenn man es so sieht, wird einem klarer, dass die Schule mit Testpflicht in der Pandemiebekämpfung ein sinnvolles Instrument ist.“
Und was ist mit den Ansteckungen, die nach wie vor unter Kindern und Jugendlichen stattfinden – offensichtlich auch in der Schule? „Selbstverständlich müssen deshalb alle Hygienemaßnahmen weiter aufrechterhalten werden“, antwortet der Statistiker. „Aber statistisch gesehen ist die Gefahr, einen infizierten Schüler zu übersehen, um ein Vielfaches geringer als der Nutzen, der entsteht, wenn in den Schulen sehr viele symptomlose Infektionen herausgefiltert werden, bevor es zu weiteren Ansteckungen kommt.“
„Offene Schulen können vergleichsweise sicher sein, für die seelische Gesundheit der Kinder sind sie unverzichtbar“
Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) hat bereits reagiert. „Es wird Zeit zum Umdenken in Berlin, dass ein durch Tests abgesicherter Schulbetrieb besser ist als Schulen pauschal zu schließen. Offene Schulen können vergleichsweise sicher sein, für die seelische Gesundheit der Kinder sind sie unverzichtbar“, sagte er gegenüber „Bild“. Hintergrund: Sachsen hatte angekündigt, die Kitas und Schulen unabhängig von allen Inzidenzwerten für den Präsenzbetrieb offenzuhalten, wurde dann aber durch die Notbremse der Bundesregierung ausgebremst. Seitdem müssen Kitas und Schulen bis auf einen Notbetrieb schließen, wenn der Inzidenzwert in einer Stadt oder einem Landkreis einen Inzidenzwert von 165 überschreitet.
Sachsen verzeichnet laut aktuellem Lagebericht einen Inzidenzwert von 209 – nach Thüringen (218) bundesweit den höchsten. Und: Sachsen liegt mit 224 Todesfällen auf 100.000 Einwohner mit Abstand im Bundesvergleich vorne – mehr als viermal so viel wie in Schleswig-Holstein, dem in dieser Hinsicht sichersten Bundesland in Deutschland.
Notbremse aussetzen? Intensivmediziner halten das für unsinnig. „Wir sind zuversichtlich, dass die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen sinken wird – und das hängt dann unmittelbar mit den Maßnahmen der Bundes-Notbremse, wie aber auch dem deutlichen Fortschritt beim Impfen zusammen“, sagt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, der „Rheinischen Post“. Das rückläufige Infektionsgeschehen werde auf den Intensivstationen in einer Woche sichtbar, „davon sind wir überzeugt“, sagte Marx weiter. „Die Bundes-Notbremse hat aus unserer Sicht also viele tausend Menschenleben retten können.“
„Die Tests haben eine Sensitivität von häufig nicht mehr als 60 Prozent”
Die Ärztevereinigung Marburger Bund hatte bereits in der vergangenen Woche deutlich gemacht, dass sich mit Corona-Schnelltests, wie sie in Schulen zum Einsatz kommen, die Pandemie nicht stoppen lässt. „Es ist nicht verkehrt, auf Antigen-Schnelltests zu setzen. Aber es wird suggeriert, dass Menschen sich quasi freitesten können. Ein negativer Schnelltest, und man kann wieder unbesorgt ins Stadion oder zum Clubkonzert, das ist die Idee. Und die ist doch ziemlich unbedarft“, erklärte Verbandsvorsitzende Dr. med. Susanne Johna in der „Augsburger Allgemeinen“. „Denn die Tests haben eine Sensitivität von häufig nicht mehr als 60 Prozent. Das heißt, wir haben viele negative Ergebnisse, die in Wahrheit falsch sind. Schnelltests sind also nicht der Schlüssel hin zu mehr Freiheit. Sinnvoll sind sie in spezifischen Gruppen, etwa an den Schulen, um zusätzlich symptomlos Infizierte zu entdecken und Übertragungen zu vermeiden. Freitesten aber klappt nicht.“
Auch in Kitas und Schulen nicht.
Trotzdem scheint die Argumentation zu verfangen. Die bayerische Staatsregierung hat heute angekündigt, ihren vorsichtigeren Weg bei den Grundschulen aufzugeben und sie bis zu einem Inzidenzwert von 165, der Bundes-Notbremse also, zu öffnen. Dies sei wichtig für die Bildung – und zur Infektionsbekämpfung, erklärte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger, «weil nur mit Tests in der Schule die Infizierten erkannt werden». Die aktuell relativ hohen Corona-Zahlen der Jugendlichen kämen aus dem Privaten. «Es wäre also kontraproduktiv, die Altersgruppe der Jugendlichen ungetestet in die Pfingstferien zu schicken, wo sie vermehrt ihre Freunde treffen und Infektionen weitertragen. Besser, sie vorher in die Schule zu holen und mehrmals testen», sagte Aiwanger, dessen Freie Wähler mit Michael Piazolo den Kultusminister stellen. Die Grundschulen zu öffnen, dürfe deshalb nur der erste Schritt sein. News4teachers
