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NRW-Regierungskoalition will Schulen für das Thema “Cybergrooming” in die Pflicht nehmen – in der Corona-Krise

Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek

DÜSSELDORF. Wie abgehoben sind unsere Politiker? Ein eindrucksvolles Beispiel für Praxisferne liefert aktuell die Regierungskoalition von CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen. Die sieht nämlich akuten Handlungsbedarf in den Schulen. Geht es darum, wie Schülerinnen und Schüler den in der Corona-Krise verpassten Lernstoff aufholen können? Soll ein Paket verabschiedet werden, um die Zahl der Schulabbrecher im Land nicht – wie von den Jugendämtern befürchtet – in Rekordhöhe schnellen zu lassen? Werden Lehrkräfte entlastet? Keineswegs. Das aufgeworfene Problem heißt „Cybergrooming“.

Klare Sicht auf die Probleme im Land? Hat offenbar nicht jeder Politiker. Illustration: Shutterstock

Die nordrhein-westfälische Regierungskoalition hat ein Problem ausgemacht, mit dem sich die Schulen des Landes jetzt intensiv beschäftigen sollen. Nämlich: Schülerinnen und Schüler besser vor sexuell motivierten Attacken durch Erwachsene im Internet zu schützen. Dafür sollen nun die Lehrkräfte sorgen. Echt jetzt.

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Die Corona-Krise ist noch nicht bewältigt. Die Landesregierung hat bislang kein Konzept vorgelegt, wie sie die entstandenen Lernlücken schließen will. Ein Großteil der Schüler ist nach wie vor nur im Wechselunterricht, also die meiste Zeit zu Hause. In vielen Schulen hinkt die Digitalisierung weit hinter dem Bedarf her. Ebenso der Gesundheitsschutz (Luftfilter!). Die sozialen Folgen für Kinder und Jugendliche der Pandemie sind längst nicht abzusehen. Die Lehrerinnen und Lehrer gehen nach monatelangem Hin und Her im Schulbetrieb auf dem Zahnfleisch. Und die Fraktionen von CDU und FDP beschäftigen sich mit: Cybergrooming.

Christina Schulze Föcking, CDU-Sprecherin in Nordrhein-Westfalen für den Kinderschutz, berichtet gegenüber der „Rheinischen Post“ von einem Austausch mit dem Landeskriminalamt, der sie offenbar sehr beeindruckt hat. „Als die Ermittler ein Fake-Profil für eine Zwölfjährige auf einem Chatportal angelegt hatten, dauerte es keine fünf Minuten, bis mehrere offenkundige ältere Männer das vermeintliche Kind anschrieben.“ Von Fragen nach dem Alter sei es „in kürzester Zeit zu Anzüglichkeiten oder sogar Aufforderungen zu heimlichen Sex-Treffen“ gegangen.

Ich möchte Frau Schulze Föcking nicht schockieren, aber für solche Belästigungen muss eine Zwölfjährige nicht mal auf ein Chatportal – es reicht ein unbegleiteter Spaziergang durchs Bahnhofsviertel einer beliebigen deutschen Großstadt. Will sagen: So neu ist das Phänomen nicht. Dass insbesondere Mädchen rüde angegangen werden, hätte seit Jahrzehnten Thema sein können. War es aber leider nicht.

„Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal sind dann gefordert, Hilfen anzubahnen”

Sei’s drum: Um Kinder und Jugendliche im Internet besser zu schützen, bringt die Koalition jetzt einen Antrag in den Düsseldorfer Landtag ein, in dem der Ausbau des Präventionsangebots gefordert wird. „Besonders die Schulen stehen in der Verantwortung“, so heißt es in dem Papier (warum eigentlich nicht die Eltern?).

Wir erfahren: In Schulen würden durch digitale Angriffe ausgelöste Verhaltensänderungen und verändertes Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern oft zuerst deutlich. „Lehrkräfte und anderes pädagogisches Personal sind dann gefordert, Hilfen anzubahnen. Hierfür benötigen sie Informationen und Kompetenzen.“ Falsch: Hierfür benötigen sie erst einmal Zeit, sich um derlei kümmern zu können. Aber Zeit ist bekanntlich Geld, und daran fehlt es im äußerst knapp bestückten Bildungsbetrieb an allen Ecken und Enden.

Wie stellt sich die Regierungskoalition eine solche Präventionsarbeit in der Praxis denn vor? Laut „Rheinischer Post“ sollen „gezielt“ Unterrichtseinheiten konzipiert werden (von wem, bleibt offen), in denen mit externen Experten Lerninhalte zum Thema „Gefahren im Internet“ aufbereitet würden. Notwendig seien auch Informationen zur Medienerziehung für Eltern in Form von Elternbriefen und Elternabenden. Zudem solle geprüft werden, einen Projekttag pro Schuljahr zu Kinder- und Jugendschutz im Internet an allen Grund- und weiterführenden Schulen einzuführen. In diese Projekttage sollten dann Polizei und Landeskriminalamt eingebunden werden.

Hier wird es grotesk. Nur ein Drittel der Schulen in NRW, das ergab eine Umfrage des WDR zu Beginn des Schuljahres, verfügt über einen schnellen Internet-Anschluss. Eine flächendeckende Versorgung der Schülerinnen und Schüler mit digitalen Geräten ist nicht gegeben. Auf ein Gerät kommen im Schnitt zwischen zehn und 30 Schülerinnen und Schüler. Selbst wenn sich die digitale Ausstattung mittlerweile leicht verbessert haben mag: In einem Gutteil der Schulen müssten die Lehrerinnen und Lehrer vermutlich Kreidetafeln beschriften, um die Kinder und Jugendlichen anschaulich vor Gefahren im Internet warnen zu können. Fürs Internet selbst reicht die Ausstattung allzu oft nicht.

Es ist typisch: Irgendjemand (in diesem Fall eben die schwarz-gelbe Regierungskoalition) stellt einen gesellschaftlichen Missstand fest (in diesem Fall eben Cybergrooming) – und reflexartig wird gefordert, dass die Schule sich darum kümmern muss.

Jedes gesellschaftliche Problem in Deutschland, dessen Ursprung sich irgendwie in der Jugend verorten lässt, sollen die Schulen lösen

Ob Bildungsungerechtigkeit und, damit verbunden, sozialer Ausgleich, Integration von Flüchtlingskindern, Inklusion, mangelndes Demokratiebewusstsein, Ernährungsmängel, Bewegungsdefizite, Betreuungsprobleme von Familien, Jungenförderung, Mädchenförderung, Unkenntnis von Schülern in ökonomischen Fragen, falsches Zähneputzen – jedes gesellschaftliche Problem in Deutschland, dessen Ursprung sich irgendwie in der Jugend verorten lässt (und das trifft auf praktisch alle zu), sollen die Schulen lösen. Und zwar plötzlich und nebenbei, also ohne dass den Lehrerinnen und Lehrern mitgeteilt würde, woher zusätzliche Mittel für die zusätzlichen Aufgaben kommen.

Wohlgemerkt: Missbrauch, ob im Internet oder direkt, ist ein gravierender gesellschaftlicher Missstand, da gibt es nichts zu beschönigen. Wenn sich aber die Schulen darum kümmern sollen, dann müssen ihnen dafür auch Ressourcen bereitgestellt werden.

Im Umgang des Bundes mit den Ländern und der Länder mit den Kommunen gilt das Konnexitätsprinzip. Das bedeutet kurzgefasst: Wer bestellt – bezahlt. Übertragen wir das doch mal im aktuellen Geschehen auf die Schulen. Wenn die Abgeordnete Schulze Föcking Schulen ernsthaft zu Präventionszentren in Sachen Cybergrooming machen will, dann sollte sie beispielsweise für die Schaffung von zusätzlichen Stellen für Lehrer oder Sozialarbeiter eintreten, die das Thema beispielsweise in Form von Projektunterricht in die Schulen tragen und als Ansprechpartner für Schüler bereitstehen. Oder FDP-Schulministerin Yvonne Gebauer müsste sagen, worum sich Lehrer an anderer Stelle dann nicht mehr zu kümmern brauchen (Lesen? Schreiben? Rechnen?).

Weil aber Schulze Föcking die Ressourcenfrage ausklammert, wirkt das Ganze wie eine billige PR-Nummer. Schlimmer: Die CDU-Sprecherin für Kinderschutz missbraucht die Schulen für ein paar knallige Schlagzeilen. News4teachers

Der Autor

Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek, Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus. Foto: Tina Umlauf

In eigener verlegerischer Verantwortung bringt die Agentur für Bildungsjournalismus tagesaktuell News4teachers heraus, die reichweitenstärkste Nachrichtenseite zur Bildung im deutschsprachigen Raum mit (nach Google Analytics) im Schnitt mehr als einer Million Lesern monatlich und einer starken Präsenz in den Sozialen Medien und auf Google. Die Redaktion von News4teachers besteht aus Lehrern und qualifizierten Journalisten. Neben News4teachers produziert die Agentur für Bildungsjournalismus die Zeitschriften „Schulmanager“ und „Kitaleitung“ (Wolters Kluwer) sowie „Die Grundschule“ (Westermann Verlag). Die Agentur für Bildungsjournalismus ist Mitglied im didacta-Verband der Bildungswirtschaft.

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