DORTMUND. Viele an Schule Beteiligte wünschten sich schon vor der Corona-Pandemie eine umfassende Schulentwicklung in Deutschland. Die durch das Virus ausgelöste Krise hat vielfach die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung noch einmal verdeutlicht. „Die Grundschulen in Deutschland brauchen einen radikalen Umbruch“, fordert vor diesem Hintergrund auch Anke Staar, Vorsitzende der Landeselternkonferenz Nordrhein-Westfalen (LEK NRW). Sie wünscht sich „individuelle Lernpläne, weniger Prüfungsdruck, mehr Bewegung, Empathie und eine Kooperation auf Augenhöhe zwischen Lehrpersonen, Betreuenden, Eltern und anderen Akteuren – schon bei der Erstellung der Curricula und Stundenplanerstellung“. Ihre These: Nur so könne es gelingen, die Motivation der Schulkinder und Lehrkräfte langfristig zu erhalten und umfassende Bildung zu gewährleisten. „Und damit die Schülerinnen und Schüler auf eine immer komplexer werdende Gesellschaft und Umwelt vorzubereiten“ – ein Gastbeitrag der Landeselternkonferenz NRW.
In den vergangenen Monaten erlebten Schulen und Familien nicht nur, wie wertvoll der ganz normale Präsenzunterricht in Schulen ist, sondern auch, wie wichtig es ist, neue Bildungswege zu beschreiten. Deutlich wurde zudem, dass gelingendes Lernen nicht nur vom Willen zur Veränderung, sondern auch von Ressourcen abhängt. Gerade die Digitalisierung erwies sich als Fluch und Segen zugleich, da sie den einen neue Möglichkeiten eröffnete, während sie den anderen Barrieren in den Weg räumte. Wie groß die Benachteiligungen waren, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Zahlreiche gute Beispiele haben aber auch gezeigt, was alles möglich sein kann, wenn vorhandene Ressourcen besser gebündelt und Synergien genutzt werden und der Wille zur Veränderungsbereitschaft da ist.
Ganzheitliche Entwicklung
Der gesetzliche Anspruch auf den Ganztag rückt immer näher. Dadurch wird gerade in der Grundschule verstärkt deutlich, dass Lehrkräfte nicht mehr die einzigen Bildungspartner der Eltern sind. Weitere Berufsgruppen übernehmen eine immer größere Rolle. Erzieherinnen und Erzieher im offenen Ganztag (OGS), sozialpädagogische Kräfte sowie Teilhabeassistenzen leisten ihren Beitrag zum Bildungs- und Erziehungsauftrag. Die Palette der Akteure wird also zunehmend größer und damit auch deren Zusammenwirken immer wichtiger. Um zu verhindern, dass Doppelstrukturen nebeneinanderher oder gar gegeneinander arbeiten, braucht es eine Klärung der Aufgabengebiete und Raum für Absprachen. Jede Stunde, die investiert wird, damit die Aufgabenteilung auf Augenhöhe unter gleichwertigen Bildungs- und Erziehungspartnern gelingt, ist wertvoll. Nur dann können gemeinsame Förder- und Hilfeplanungen gelingen, die das individuelle Kind in den Mittelpunkt stellen und weniger das standardisierte Curriculum.
Eine solch gemeinsame Planung, insbesondere in Abstimmung und im Zusammenwirken mit den Eltern, wird häufig noch auf allen entscheidungsverantwortlichen Ebenen als Belastung statt Entlastung gesehen. Diese Entlastung würde Transparenz erfordern und eine große Bereitschaft zur Selbstreflektion. Nur mit dieser Bereitschaft, sein eigenes Handeln zu hinterfragen, ist es möglich, eine gescheiterte Lernstandskontrolle von Lernenden nicht als Beurteilung ihrer Leistung zu sehen, sondern als Aufgabe, andere Förderwege zu finden. Ein wesentlicher Baustein dafür ist, dass eigene Bewusstsein zu schärfen und ein Vorurteilsbewusstsein zu entwickeln, um zu wissen, wie stark die eigene Identität und Biografie mit dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler zusammenhängen. Denn weiterhin ist in vielen Bildungsberichten zu lesen, dass die soziale Herkunft immer noch den Bildungsweg vorbestimmt. Mit einem Verständnis vom eigenen Vorurteilsbewusstsein gelänge es, Förderpläne besser auszurichten und Erwartungshaltungen zu verändern. Solche Grundlagen, wie sie das Anti-Bias Training vermittelt, das Professor Prasad Reddy aus Bonn in seiner Publikation „Hier bist du richtig, wie Du bist“ beschreibt, sollten allen am Schulleben Beteiligten präsent sein.
Vermeintliche Förderung, die zu Ausgrenzung führt
Doch wie verzweifelt Differenzierung betrieben wird, die dann aber nur zu weiterer Frustration und Ausgrenzung führt, ist gut am Beispiel der Lese-Rechtschreibschwäche aufzuzeigen. Trotz wachsender Früherkennung und unzähligen didaktischen Methoden gelingt es nicht, die Betroffenen im regulären Unterricht ausreichend zu fördern. Zu den Gründen gehören in der Regel Zeitmangel, fehlende personelle Ressourcen und fehlende gemeinsame Planung für alternative Vermittlungsmethoden. Statt individueller Erstvermittlung wird Zusatzförderung aufgebürdet. In der Folge können die Kinder dem Unterricht bald nicht mehr folgen. Nachmittägliche außerschulische Förderung soll das (schulische) Defizit füllen, was den Betroffenen doppelte Lernzeit aufbürdet. Das Problem ist hier unter anderem, dass die Förderung nicht in Absprache mit der Schule stattfindet, auch nicht in der Schule, sondern zusätzlich erfolgt. Damit wird sie häufig als weitere Zeit des Absitzens wahrgenommen, was zu einer enormen Belastung führt, die gerade von jüngeren Schülerinnen und Schülern als Bestrafung empfunden wird. Sie bekommen somit schon früh gezeigt, dass ein Defizit mehr Arbeit und Ausgrenzung bedeutet. Gerade erst in der Schule angekommen, wird die Lernfreude schon wieder genommen.
Ressourcen gewinnen durch Umsteuerung
Die Bildung von multiprofessionellen Teams in Schulen mit klaren Aufgaben, zur besseren Förderplanung aller Kinder muss vor diesem Hintergrund oberste Priorität bekommen. Doch schulische Ressourcen, gerade für wertvolle Planungszeiten, sind viel zu knapp bemessen. Hier mehr einzufordern ist sicherlich richtig. Einigen Ganztagesschulen gelingt es allerdings schon jetzt, die vorhandenen Ressourcen effizient zu nutzen, wie der Grundschule am Heidenberger Teich in Hahle oder der Köllerholz-Grundschule in Bochum. Hier spielen Eltern eine zentrale Rolle bei der schulischen Bildung und werden als starke Ressource eingebunden. Das Selbsterleben der Eltern, am Bildungserfolg ihrer Kinder zu partizipieren, und die Abkehr vom Beurteilungsmonopol der Lehrkräfte ermöglichen Spielräume für Bildungsvielfalt. Solche Schulen zeigen eindrucksvoll, wie vorhandene Ressourcen anders und gezielter genutzt und vernetzt werden können.
Das Problem ist also nicht immer der Mangel an Personal, sondern manchmal auch die Bereitschaft, anderen Beteiligten etwas zuzutrauen und sie einzubinden. Doch viel zu oft wird die OGS oder Teilhabeassistenz noch strikt von Schule getrennt, statt sie als Baustein für die Bildungsvielfalt zu nutzen. Dies hat überwiegend mit den Zuständigkeiten zu tun, weil OGS und Teilhabeassistenzen über die Schulträger, die Jugendhilfe oder das Sozialamt verrechnet werden. Die starke Beschränkung der Verwendung der personellen Ressourcen im schulischen Bereich verhindert eine gemeinsame zielführende Planung für das Kind. Man verharrt in der Illusion, dass Betreuung oder Schulbegleitung nichts mit Bildung zu tun hätten. So zerren unterschiedliche Bildungsplayer häufig in verschiedene Richtungen an einem Kind. Dramatisch wird es dann, wenn bei ohnehin schon gefrusteten und häufig in der Folge immer stärker ausgegrenzten Schulkindern noch außerschulische Bildungsplayer parallel Strukturen aufmachen. Dies zeigt: Die Art der Beschulung muss sich radikal ändern. Wie radikal, wird deutlich, wenn man auf die viel beneideten Länder im Pisa-Vergleich blickt, wie Finnland. Das dogmatische Testen ist dort schon lange abgeschafft. Dafür gibt es mehr Zeit für Spiele, Bewegung und ganzheitliches Lernen und gleichzeitig nur wenige Hausaufgaben. Was bleibt: viel mehr Freude beim Lernen.
Hier geht es weiter mit Teil II des Beitrags.
Lehrerinnen und Lehrer werden auf ihren multiprofessionellen Berufsalltag kaum vorbereitet
