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Bestnoten-Inflation im Abitur: Warum dies die Corona-Folgen für die Schulen verharmlost – und letztlich der Bildung schadet

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BERLIN. Wie schön. Aus allen Bundesländern kommen Meldungen, nach denen die Abiturientinnen und Abiturienten in diesem Jahr besonders gut abgeschnitten haben. Trotz Corona. Oder wegen Corona? Sind die Superbilanzen wirklich schön – oder drücken sie nicht vielmehr aus, was schon seit langem zu beobachten ist: eine Geringschätzung von echter Bildung nämlich? Unser Gastautor, der Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase, beantwortet im folgenden Kommentar die Frage pointiert – für ihn steckt hinter dem Phänomen der Noteninflation ein grundsätzliches Problem.

Immer leichter, immer höher? Illustration: Shutterstock

Inflation der guten Noten trotz Pandemie – Warum das denn?

Von Prof. Dr. Rainer Dollase

Verquere Verhaltensweisen und Deutungen der Welt sind manches Menschen Reaktion auf Krisen – da werden Probleme geleugnet, von ihnen abgelenkt, tangentialisiert (Nebensächlichkeiten aufgebauscht) oder mit von Public-Relation-Experten entwickeltem Schönreden verzwergt. Alles halb so schlimm – eigentlich kein Problem. Oder – andere Deutung -: die Krise sagt uns ganz was anderes…

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Ein schönes Beispiel für interpretativen Orientierungsverlust: Es gibt Supernoten zum Gymnasialabschluss trotz Pandemie

Von besonderem Interesse für irrationale Reaktionen auf die Pandemie sind Fakten zu denjenigen Folgen, die so niemand erwartet hat. Ein paar Beispiele. In Hessen hört man: „Durchschnittsnote in der Pandemie 2,25 vorher 2,33. 4,2 Prozent erreichen die Traumnote 1,0. Oder – in einem anderen Bundesland „Die meisten von Euch haben eine 1 vor dem Komma.“ Oder in Bayern: „Das Penzberger Gymnasium hat am Freitag einen Rekord-Abiturjahrgang verabschiedet. Der Notenschnitt lag bei 1,99. Der Jahrgang toppte damit sogar das Ergebnis des vergangenen Jahres, das bei 2,09 lag. Alle 101 Jugendlichen haben die Abi-Prüfungen bestanden. 53 von ihnen sogar mit einer Eins vor dem Komma.“ Und so weiter… (Herzlichen Glückwunsch allen Schülern, Eltern und Lehrern zu dieser Leistung – diese zu schmälern ist nicht Gegenstand dieses Artikels.)

Fatal und gefährlich sind die pauschalisierenden Schlussfolgerungen beruflicher Schlauberger: „Der Kultusminister nimmt das als Beweis, dass Bildung auch in der Pandemie funktioniere“. Das verleitet – denkt man den Satz zu Ende – zu einem echten Schildbürgerstreich.

Wenn wochenlang der Unterricht nur verdünnt und nur per Distanz angeboten werden kann, wenn wichtige Themen nicht behandelt werden können – dann drängt sich der Eindruck bei so tollen Einsernoten auf: Schafft Teile der Lehrerschaft ab – wir schaffen es auch mit viel weniger Unterricht. Einfach Youtube-Videos ansehen und Arbeitsblätter in Zoom-Konferenzen  besprechen. Das reicht. Sollen wir die Hälfte der Lehrer entlassen?

Natürlich regt sich Widerstand gegen diese Verharmlosung der schulischen Pandemiefolgen – auch wegen des Sonderfalls der Abi-Klassen in verschiedenen Ländern. Selbst bei der OECD lautet es: „Eine große Zahl junger Menschen ist völlig durchs Raster gefallen. Denen hat die Krise sehr schwer zugesetzt“, sagt der Bildungsdirektor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Andreas Schleicher, dem MDR. Aber was interessiert uns die Bildungsgerechtigkeit – wenn es nicht gerade um Reklame für Gesamtschulen geht (..die nach Esser und Seuring, 2020, gerade nicht für gerechten Leistungszuwachs sorgen).

Die Einserinflation bei den Abschlussklassen verdeckt die dünnen Effektivitätswerte von distalem und digitalem Unterricht – auch die pomphaft gepriesene „flipped classroom“-Methode (erst Lernvideos ansehen und dann eine elektronische Zoomdiskussion) schwächelt mit d-Werten nah an der Bemerkbarkeitsschwelle oder darunter. Als Wundermethode für alle gibt es nichts, was den guten Unterricht (nämlich direct teaching) toppen könnte.

Empirie hin oder her – auch Schlauberger:innen müssen sich knallharten Fakten in der Krise beugen: Zur Sicherung der vollen Ausbildungs- und Studierfähigkeit unseres Nachwuchses muss das nachgeholt werden, was ausgefallen ist. Und es ist genug ausgefallen. Und alles denen erklärt werden, die durch Distanzlernen den Anschluss verloren haben. Das wäre gerecht und im Sinne der Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens rational und effektiv.

Was wäre zu tun? Scheinlösungen und radikale Eingriffe

Naheliegende Idee: in Sommerschulen, Samstagskursen und Förderstunden das Ausgefallene nachholen. Reichen diese Maßnahmen? Man wird es sehen – falls jemand eine kritische Evaluation macht. Oder – moralisch gefragt – Ist es nicht diskriminierend, nur den Gescheiterten Nachhilfe anzubieten?

Den einfachsten Weg wollen natürlich die beruflichen Schlauberger:innen – fest im Schwitzkasten der Bildungsökonomie und anderer distaler Beobachter – nicht beschreiten: maßvolle Schulzeitverlängerung. Mit der Einführung von G8 hat der mehrfach benannte Personenkreis von Bescheidwisser:innen ja schon gezeigt, was sie von Schulzeit halten (Dennoch geben sie Leistungsunterschiede der Nationen bei PISA und Bundesländer bei IQB gerne in Zeiteinheiten an, z.B. „das Land x ist im Schnitt ein halbes Jahr schlechter“ – klar: Widersprüche erkennt ja ohnehin nur kleiner Teil der Leser:innen).

Vollends widersprüchlich handeln die Erleuchteten (m, w, d, lgbt) der Bildungspolitik auch mit der Einführung der Kompetenzorientierung, vulgo: „Du brauchst nichts mehr zu wissen, sondern nur die Kompetenz zeigen, die dir vorliegenden Fakten richtig zu ordnen und daraus Schlüsse zu ziehen“. Diese Kompetenz haben wir mit der jedem Menschen eigenen Intelligenz schon von Kindesbeinen an, also sind viele Schuljahre für einen kompetenten Menschen überflüssig. Hans Peter Klein ist z. B. für sein aufsehenerregendes Experiment mit einer Bio-Leistungsklausur nach Kompetenzorientierung berühmt geworden: Bereits Mittelstufenschüler konnten sie ohne Vorwissen fast alle (1 Ausnahme) erfolgreich bestehen. Also G5 möglich? Also ist der Unterrichtsausfall in der Pandemie kein Beinbruch – das macht nichts. Kompetenzorientierung ist unempfindlich gegen Schulzeitverkürzungen. Und eine Scheinlösung des Leistungsproblems.

Und die argumentative Oberflächlichkeit der Talkshows (für gründliches Denken – hat man ja keine Zeit) verdirbt zusammen mit der Kompetenzorientierung in der Schule ohnehin die soliden politischen und gesellschaftlichen Maßstäbe. Wo Empörung und Hysterie herrscht, kann Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterschieden werden.

Bis in die akademischen Berufe hinein ist konsequentes und logisches Denken oft unbekannt. Mit der rationalen Selbstaufklärung des Menschen haben sich viele nie auseinandergesetzt. Stattdessen grassiert das Dunning Kruger Syndrom: Je inkompetenter jemand ist, desto höher schätzt er die eigene Kompetenz. Und findet also die Traumnoten ganz normal.

Die Noteninflation hat viele Ursachen: Neben der Kompetenzorientierung sind es: die Transparenz der Leistungsanforderung, das Einüben und Trainieren der richtigen Antworten, die Erlaubnis von Hilfsmitteln, kollektive Prüfungsformate etc.(vgl. Dollase, R. 2016b).

Auch ich vergebe – da immer noch unterrichtend – vorwiegend gute und sehr gute Noten. Für Hausarbeiten. Die kann man zu Hause in aller Ruhe vorbereiten, das Weltwissen per Computer dazu nutzen, die neuesten seriösen Quellen zum Thema ruck-zuck finden und mit seinen Freund:innen gemeinsam den Text dutzendmal durchgehen und optimieren. Meine Studierenden wissen allerdings, dass eine ad hoc Fähigkeit ohne Hilfe einer Wissensressource wie dem Internet, ohne Vorbereitung der Klausur im Seminar, ohne jemanden, der auch mal was vorsagen kann – ohne Beratung und Rückmeldung des Dozenten – stets zu deutlich schlechteren Leistungen führen würde.

Kritisches Denken und Transfer – früher ein Kriterium für gute Leistungen – können angesichts der Megaressource Internet für vorbereitete Arbeiten (z. B. Hausarbeiten als Referat in der Klasse vorstellen) nicht mehr beurteilt werden. Natürlich steht die Kritik zu irgendeinem Thema auch schon im Internet. Kontroversen und unterschiedliche Meinungen werden tausendfach publiziert. Und Schüler und Studenten lernen diese Kritik wie Wissen auswendig – ist das noch Leistung, die über das Auswendiglernen hinausgeht?

Halten wir fest: Die Noteninflation guter und bester Noten ist ein Trend, der schon Jahre anhält. Er ist durch Schul- und Unterrichtsausfall nicht zu stoppen. Zahlreiche Ursachen füttern diesen Trend.

Wege zur ehrlichen Notengebung

Wenn im Gefolge der Pandemie trotz Unterrichtsausfall paradox exzellente Noten vergeben werden können, lenkt das den Blick auf die Frage „Wie könnte eine ehrliche Notengebung aussehen?“

Dazu zunächst ein Umfrageergebnis. In der erste Dekade des 21. Jahrhunderts (mittlerweile auch in der zweiten repliziert) haben rund 6.500 Bundesbürger die Frage beantwortet „Welche Art von Information ist für die Bewertung eines Menschen wichtig?“ (mittels Paarvergleich von 6 ausgewählten Kriterien). Die eindeutige Wichtigkeitsreihenfolge in 10 Replikationen (Berufsstichproben: Studenten, Schüler SI, Schüler SII, Lehrer, Erzieherinnen, Polizeibeamte, Arbeiter und Angestellte, Journalisten, Krankenpflegepersonal, Sozialpädagogen) lautet: 1. Platz: Schulabschluss, 2. Platz: Beruf, 3. Platz: Alter, 4. Platz: Geschlecht, 5. Platz: Nationalität und 6. Platz: Religion – also wenn schon Identitätspolitik, dann bitte Schulabschluss und Beruf als vorrangig. Stattdessen dröhnen uns Hysterien über nebensächliche Identitäten die Ohren voll.

Diese gesellschaftliche Orientierung baut einen enormen Druck im Bildungssystem auf (vgl. Dollase 2016a) und führt im Gefolge zu lebensfernen und dysfunktionalen Versuchen „Abi und Uni“ für jeden zu erreichen. Da wird mit klingenden Worten an den Prüfungsformaten gebastelt (= um „jedem gerecht zu werden“, d.h. im Klartext: damit es jeder schafft), da werden Manifeste geschrieben zum „Mythos der individuellen Leistung“ (d.h. es gibt nur gemeinschaftliche Leistungen, weshalb alle Uni und Abi gemeinsam schaffen können müssen etc.). Deshalb auch die extensiven Übungen von Klausuren. Deshalb die minimale Rezeption der Metaanalysen zum guten Unterricht von Hattie – dabei könnte der Leistungs- und Selektionsgedanke ja wieder belebt werden. (Ok – wir können gerne auf das Leistungsprinzip verzichten, wenn wir kollektiv in die wirtschaftliche Armut und Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen – wenn die Mehrheit das will, machen wir doch gerne.)

Ein neues Zeugnis von Kita bis Uni müsste her (Dollase, 2005: ein mehrperspektivisches Zeugnis, oder individuelles Leistungsportfolio):

  1. Beschrieben wird jede relevante Tätigkeit und ihre Bewertung in kurzen Begriffen – also auch außerschulische Tätigkeiten (z.B. Praktikum Feuerwehr), aber auch Testergebnisse, Klassenarbeiten, Referate, Hausarbeiten etc. Dabei muss vermerkt werden, wie die Entstehungssituation war – alleine, in Gruppe, mit Hilfe etc.
  2. Es gibt weder für ein Fach, noch für mehrere Jahre eine Gesamtnote. Gesamtnoten werden abgeschafft. Der Abnehmer der Schüler muss sich schon die Mühe machen, das bisherige Portfolio zu durchforsten. Es lässt sich keine Schwäche irgendwo mit einer Stärke anderswo kompensieren. Schlechte Matheleistungen etwa durch Aufzählung der Nebenflüsse des Rheins…
  3. Der Abbruch von Schule und Uni, Schul- und Uniwechsel muss jederzeit möglich sein.
  4. Die Abnehmer der Schüler definieren, was sie als Zugangsberechtigung brauchen, z. B. Medizinstudium: alle naturwissenschaftlichen Fächer, dazu Latein, ein Praktikum in der Altenpflege etc.
  5. Das individuelle Leistungsportfolio wird lebenslang weitergeführt – es gibt kein Ende der Qualifizierung. Damit erübrigen sich auch weitere Diskussionen über die Durchlässigkeit von Bildungssystemen.

Eine Zeugnisreform wie skizziert, könnte den fatalen Trend zu Abi und Uni, zu Facharbeitermangel und Bildungsdünkel stoppen helfen. Wer nur Gruppenarbeiten, mündliche Beteiligung im Unterricht und Hausarbeiten schaffen konnte – wird ehrlicherweise das zugeben müssen, weil es im Zeugnis so steht. Ein pandemiebedingter Unterrichtsausfall und der verstärkte Trend zu Hausarbeiten mit Ressourcen (also auch mit Pfuscherei 🙂 würde sich auch ehrlich abbilden. Und die Zensuren-Hysterie vergessen wir.

So etwas umzusetzen, würde in Deutschland mit seiner verkalkten Erneuerungskultur Jahrzehnte brauchen. Schneller ginge es, wenn man jedem Neugeborenen gleich die Uni Zugangsberechtigung schenken würde. Oder jedem Menschen  bei der Geburt die Zusatznamen „Profundus“ und „Drusus“ geben – so könnte er sich stets „Prof. Dr.“ nennen. Dann könnten wir endlich anfangen, systemrelevant zu lernen und zu arbeiten. Und Politiker müssen sich ihre Bücher nicht mehr von Hilfskräften abschreiben lassen.

Literatur:

Zur Person
Der Psychologie-Professor Rainer Dollase gehört zu den renommiertesten Bildungswissenschaftlern in Deutschland. Foto: privat

Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs.

Gewinner ist: das gegliederte Schulsystem – ein Gastkommentar zur IQB-Studie

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