STUTTGART. Wenn der Unterricht beginnt, können ab sofort in Baden-Württemberg die Masken in den Schulklassen eingepackt werden – gegen die ausdrückliche Empfehlung des Robert-Koch-Instituts. Unter den Lehrerverbänden herrscht Uneinigkeit: Während der VBE die Entscheidung von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) mitträgt, sprechen sich Philologenverband und GEW entschieden dagegen aus. Der Zeitpunkt der schon länger angekündigten Lockerung – zwei Wochen vor den Herbstferien – verwundert.
Im Südwesten müssen Schüler im Unterricht künftig keinen Mund- und Nasenschutz mehr tragen, wenn sie an ihrem Platz sitzen. Auch Lehrerinnen und Lehrer können im Unterricht auf die Maske verzichten, sofern sie den Mindestabstand von 1,5 Metern zu den Schülerinnen und Schülern einhalten. «So kann die Lehrkraft beispielsweise die Maske ablegen, wenn sie am Pult steht oder an der Tafel etwas erklärt», erläuterte das Kultusministerium vorab. Überall sonst im Schulgebäude muss weiterhin eine Maske getragen werden. In Grundschulen entfällt die Maskenpflicht im Klassenzimmer komplett.
Maskenpflicht per kurzfristiger NOTVERKÜNDUNG am Wochenende aufgehoben. Fast zwei Jahre Pandemie und das kann jetzt natürlich keine vier Wochen bis zur Impfzulassung warten. Jede Sekunde für die natürlichen Immunisierung zählt. Was für ‘ne Shitshow. https://t.co/sHk91Mos7w
— 🕳 Suat Özgür (@sui7_7) October 17, 2021
Der Zeitpunkt der Maßnahme verwundert: In zwei Wochen beginnen in Baden-Württemberg die Herbstferien – ist es das Kalkül der Landesregierung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), die Ansteckungen auf ein hohes Niveau laufen zu lassen, um dann in der unterrichtsfreien Zeit die Zahlen wieder sinken zu sehen? Das Land will nach Angaben des Kultusministeriums Sicherheitsmechanismen einbauen, falls sich die Corona-Lage zuspitzt. Masken am Platz müssten wieder getragen werden, wenn die Corona-Alarmstufe des Landes greife, hieß es.
«In Abwägung der Vor- und Nachteile hat sich die Landesregierung zu einer Lockerung entschieden»
Die in der Corona-Verordnung des Landes verankerte Alarmstufe tritt in Kraft, sobald 390 Covid-19-Patienten an zwei aufeinanderfolgenden Werktagen auf Intensivstationen behandelt werden oder die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz an fünf Werktagen in Folge bei 12 liegt. Auch wenn es in einer Klasse einen positiven Corona-Fall gibt, müssen die Schüler der jeweiligen Lerngruppe oder Klasse die Masken an ihren Plätzen wieder nutzen. «Masken sind ein Sicherheitszaun, erschweren aber auch die Kommunikation», teilte das Kultusministerium dazu mit. «In Abwägung der Vor- und Nachteile hat sich die Landesregierung zu einer Lockerung entschieden.» Das Robert-Koch-Institut empfiehlt dringend, die Maskenpflicht in Klassenräumen aufrechtzuerhalten.
Schopper hatte allerdings schon vor zwei Monaten durchblicken lassen, dass sie mit einer Durchseuchung der größtenteils ungeimpften Schülerschaft keine Probleme hat. «Delta wird sich in den Schulen breitmachen, da muss man sich nichts vormachen», sagte sie im Juli. Allerdings zeichne sich ab, dass es bei Schülerinnen und Schülern nur leichte Verläufe wie Husten oder Schnupfen gebe. Es sei übertrieben, an Schulschließungen zu denken, wenn Kinder und Jugendliche im Wesentlichen «einen Packen Taschentücher» bräuchten.
«Das ist für uns mehrheitlich in Ordnung, wir tragen das soweit mit», sagte der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, zur Streichung der Maskenpflicht. «Aber wir müssen Acht darauf geben, wie es sich entwickelt. Und wir wollen natürlich wissen, was passiert, sollten die Infektionszahlen wieder steigen, nachdem man sich vom Maskentragen verabschiedet hat.»
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) tritt dagegen auf die Bremse. «Warum jetzt unnötig ins Risiko gehen?», fragte die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein. «Vor einem Jahr haben wir es im Dezember bereut, dass wir im Herbst nicht vorsichtiger waren.» Die Maskenpflicht sollte bis zu den Herbstferien beibehalten und dann entschieden werden, wie es im November weiter geht. «Mit Blick auf die zu niedrige Impfquote und weiter fehlende Sicherheitsmaßnahmen wie Luftreinigungsgeräte bleibt uns derzeit nichts anderes übrig, als weiterhin Masken zu tragen, wenn wir die Präsenz in Kitas und Schulen nicht gefährden wollen», sagte Stein im Gespräch. «Wir wissen noch viel zu wenig über Langzeitfolgen einer Covid-Infektion.»
In den vier Bundesländern Thüringen, Bayern und dem Saarland, wo vor Wochen bereits die Maskenpflicht im Unterricht ausgesetzt wurde (und wo bislang keine Herbstferien waren), explodieren die Inzidenzen unter Schülerinnen und Schülern. In sechs Landkreisen allein in Thüringen werden unter Fünf- bis 14-Jährigen Werte von über 500 gemessen, obwohl dort in den Schulen nicht mehr getestet wird. Auch in Baden-Württemberg sind die Zahlen hoch – trotz bislang bestehender Maskenpflicht: beispielsweise im Landkreis Reutlingen 367, in Heilbronn 353, im Landkreis Sigmaringen 375 – und in Pforzheim sogar 455 (Stand: 17. Oktober).
«Ich halte diese Entscheidung für verfrüht – und ehrlich gesagt auch für ziemlich dumm»
„Ich halte einen solchen Schritt zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht“, erklärte denn auch der Philologen-Landesvorsitzende Ralf Scholl. Die Erfahrungen aus Thüringen sprächen gegen eine solche Maßnahme. „Wenn die Schulen offengehalten werden sollen, sind möglichst umfangreiche Schutzmaßnahmen unumgänglich. Dazu gehören neben den vom Philologenverband seit über einem Jahr geforderten Raumluftreinigungsgeräten auch und gerade Masken.“ Eine Aufhebung der Maskenpflicht würde die Ansteckungsgefahr in Klassenzimmern um den Faktor drei erhöhen, wie eine Studie ergab, die die Stadt Stuttgart hatte durchführen lassen (News4teachers berichtete darüber).
Die Hilflosigkeit u.das Ausgeliefertsein machen unheimlich viel mit mir. Ich denke an jedes einzelne der vielen Kinder, für die ich morgen wieder während der Schulzeit die Verantwortung habe u. die ich nicht mehr schützen kann. Es zehrt so, so sehr.#ProtectTheKids #Maskenpflicht
— Frau Rektorin (BW) (@FrauRektorin) October 17, 2021
Die Virologin Prof. Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, die zum Beraterstab der Bundesregierung gehört, hält die Abschaffung der Maskenpflicht an Schulen für verfrüht. «Wenn man etwas abschaffen möchte, dessen Nutzen wissenschaftlich erwiesen ist und das fast nichts kostet, kann man das machen. Die Frage ist nur, ob es klug ist», sagte sie vor zwei Wochen gegenüber der «Rheinischen Post». «Bei der hohen Anzahl an Nicht-Geimpften, und hierzu zählen die Kinder, halte ich diese Entscheidung für verfrüht – und ehrlich gesagt auch für ziemlich dumm.» News4teachers / mit Material der dpa
Schoppers Entscheidung, ein Fanal: Nie war deutlicher, wie egal Kinder sind