Website-Icon News4teachers

Die Folgen der Unwahrheit: Wie die Politik mit ihrer Behauptung, die Schulen seien sicher, die Durchseuchung vorantreibt

Anzeige

BERLIN. Der Corona-Expertenrat fordert von der Politik eine offene und wissenschaftsbasierte Kommunikation, um die Bevölkerung von sinnvollen Schutzmaßnahmen überzeugen zu können. Wie sehr die Regierenden dabei versagen, zeigt das Beispiel Kitas und Schulen: Das Märchen, die Bildungseinrichtungen seien sicher, hat offenbar so gut verfangen, dass viele Eltern keinen Sinn darin sehen, ihr Kind impfen zu lassen. Konsequenz ist eine Durchseuchung mit unabsehbaren Folgen.  

Ex-US-Präsident Donald Trump hat die absurde Lüge zum politischen Stilmittel gemacht – mit einem gewissen Erfolg: Immerhin ein Viertel der Bürger glaubt seiner Erzählung vom “Wahlbetrug”. Foto: Evan El-Amin / Shutterstock.com

„Ein Mangel an Übereinstimmung von verfügbaren Informationen, ihrer Bewertungen und den resultierenden Empfehlungen trägt zu Verunsicherung der Bevölkerung bei, bietet Angriffsfläche für Falsch- und Desinformation, untergräbt das Vertrauen in staatliches Handeln und gefährdet den Erfolg von wichtigen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit“, so schreibt der Corona-Expertenrat der Bundesregierung in seiner jüngsten Stellungnahme.

Und weiter: „Um das Individuum und die Gesellschaft in ihrer Selbstwirksamkeit und risikokompetentem Verhalten zu unterstützen, ist eine reaktionsschnelle, evidenzbasierte, zielgruppen- und nutzerspezifische Risiko- und Gesundheitskommunikation unabdingbar. Diese muss wissenschaftliche Evidenz einfach erklären, in Handlungsempfehlungen übersetzen und zur Bezugsnorm und ersten Wahl für hilfreiche und verlässliche Information werden.“

Anzeige

„Eine solch drastische Entkoppelung von Wissenschaft und politischem Handeln hatte ich nicht erwartet“

Was der Expertenrat nicht schreibt: Zum großen Problem wird die Kommunikation in einer Krisensituation wie einer Pandemie dann, wenn der Staat – vertreten vor allem durch seine Regierenden – es nicht nur unterlässt, „reaktionsschnell, evidenzbasiert, zielgruppen- und nutzerspezifisch“ zu informieren, sondern seinerseits gar kein Interesse an wissenschaftlicher Evidenz zeigt – und lieber politische Wunschbotschaften kommuniziert.

Das war und ist vor allem in der Bildungspolitik erkennbar. So stellte die Virologin Dr. med. Jana Schroeder, Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie im nordrhein-westfälischen Klinikverbund Stiftung Mathias-Spital, unlängst mit Blick auf den fehlenden Corona-Schutz an Kitas und Schulen verzweifelt fest: „Eine solch drastische Entkoppelung von Wissenschaft und politischem Handeln, das den Verlauf der Pandemie beeinflusst, hatte ich nicht erwartet.“ Ähnlich äußerte sich im März vergangenen Jahres die Virologin Prof. Melanie Brinkmann (heute Mitglied im Corona-Expertenrat), als von den Kultusministerinnen und Kultusministern bei hohen Inzidenzen Schulöffnungen ohne weiteren Corona-Schutz vorangetrieben wurden. „Was uns gerade präsentiert wird, ist eine intellektuelle Beleidigung an alle und keine Perspektive“, befand sie.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Groteske Beispiele gefällig? Die Situation: Eine in ihren Folgewirkungen noch weitgehend unbekannte Seuchenwelle rollt durch die Bildungseinrichtungen und infiziert dort Hunderttausende von Kindern. Und was sagen die für den Gesundheitsschutz in Kitas und Schulen verantwortlichen Politikerinnen und Politiker dazu? Die Brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) lässt am Montag erst ihre Sprecherin erklären, die Schulen seien nach den Winterferien „wieder gut“ gestartet.

„Die Infektionen, die wir in der Schule feststellen, sind im überwiegenden Teil im privaten Umfeld erfolgt“, so behauptete Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU) noch  vergangene Woche. „Wir alle wissen, wie gut Präsenzunterricht den Kindern und Jugendlichen tut“, befand Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD). Zuvor hatte die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) erklärt: „Unsere Schulen sind durch das regelmäßige Testen, den Schutz der Masken und die konsequente Einhaltung der Hygiene-Vorschriften sehr sichere Orte.“

Offensichtlich ist das alles gelogen. Denn der Expertenrat der Bundesregierung verfügt über anderslautende Informationen – und wird diese den Kultusministerinnen und Kultusministern kaum vorenthalten haben. „Wir haben eindeutig den Befund, dass die Übertragungen im Moment aus dem Schulbetrieb gespeist werden“, sagt der dem Gremium angehörende Virologe Prof. Christian Drosten in seinem jüngsten NDR-Podcast.

Tatsächlich muss man kein Wissenschaftler sein, um erkennen zu können, dass derzeit – entgegen den Behauptungen der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker – an den Kitas und Schulen eine Durchseuchung mit der Omikron-Variante stattfindet, ohne dass dagegen wirkungsvolle Schutzmaßnahmen ergriffen würden. Ein Blick auf die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen reicht. Bayern zum Beispiel hat unter Fünf- bis 14-Jährigen nunmehr eine Neuansteckungsquote von fünf Prozent erreicht – innerhalb von nur sieben Tagen. Angesichts der exponentiellen Ausbreitung des Coronavirus wird es bei dieser Dynamik lediglich wenige Wochen dauern, bis sich fast alle Schülerinnen und Schüler infiziert haben.

Kein Wort kommt dazu aus der Politik. Offiziell gilt nach wie vor, was Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) im Juli befand: Kinder und Jugendliche bräuchten wegen normalerweise leichter Verläufe im Wesentlichen „einen Packen Taschentücher“, da sei es übertrieben, an Schulschließungen zu denken.

Die Realität: Bei Kita-Kindern und Schülern registriert das Robert-Koch-Institut eine explodierende Zahl von Arztbesuchen. Sie liegt im Verhältnis mindestens doppelt so hoch wie bei allen anderen Altersgruppen – sicher nicht deshalb, weil die betroffenen Kinder und Jugendlichen nur Taschentücher benötigen würden. „In meinem Umfeld häufen sich Berichte von kranken Kindern, die mehrere Tage hohes Fieber und starke Schmerzen, vor allem Kopfschmerzen, haben. Eltern sind überrascht, weil sie davon ausgegangen sind, dass die Verläufe ‚mild‘ seien“, so berichtet der bayerische GEW-Landesvize Florian Kohl.

Zudem zählt das RKI bundesweit immer mehr Todesfälle durch Corona-Infektionen unter Kindern und Jugendlichen; mittlerweile sind es 47. Die langfristigen Folgen für Kinder – Long Covid – sind völlig ungeklärt, wie unlängst auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) einräumen musste. „Darüber werden wir in Zukunft noch sprechen müssen“, erklärte sie. „Aber ich bin guten Mutes. Mit guten Therapien und der frühen Aufmerksamkeit für das Thema können wir auch da Gegenmittel schaffen.“ Es gibt also keine. Ergo: Von sicheren Kitas und Schulen kann keine Rede sein.

Wie kommen Politikerinnen und Politiker dazu, durchgängig die Unwahrheit zu verbreiten? Das Motiv scheint klar: Die eigene Untätigkeit muss verschleiert werden; die Kultusministerinnen und Kultusminister würden sonst eingestehen, in zwei Jahren Pandemie die Kitas und Schulen im Stich gelassen zu haben.

Aber auch juristisch hätte das Eingeständnis, dass außer der Maskenpflicht im Unterricht (bei der die Masken noch nicht einmal bereitgestellt werden) keine wirkungsvollen Schutzmaßnahmen für Kita-Kinder und Schüler ergriffen wurden, Folgen. Bislang stützten die Verwaltungsgerichte gegen klagende Eltern den Kurs der Ministerien – unter Verweis darauf, dass diese ja “Schutzkonzepte” vorgelegt hätten. Gemeint ist damit zum Beispiel das vierseitige Faltblatt, das Lehrern das Fensterlüften erklärt. Ob die ergriffenen Maßnahmen tatsächlich Ansteckungen verhindern, wurde von den Richtern nicht überprüft. Wenn nun aber eingeräumt würde, dass den Ministerien lange klar war, dass diese “Konzepte” für einen Infektionsschutz nach dem Stand der Wissenschaft nicht ausreichen – dann würde so manches Urteil wohl anders ausfallen. Was die Kultusminister enorm in Bedrängnis brächte.

Gelogen wurde in der Politik immer schon, wie der Politikwissenschaftler Prof. Stefan Marschall in einem Beitrag zur “postfaktischen Zeitalter” für die Bundeszentrale für politische Bildung feststellt. Wenn allerdings ein Amtsträger dabei erwischt wurde, war ein Rücktritt fällig. Das ist jedoch anders, wenn fast alle lügen und/oder wenn durchgängig gelogen wird, sodass die Lüge folgenlos bleibt. Dann wird das Problem grundsätzlich. „Während die systematische Lüge für eine Diktatur durchaus systemrelevant ist, kann eine Kultur der Lüge in der Demokratie zu einem substanziellen Problem werden. Nicht nur, weil gute Politik auf Fakten beruhen muss, um nicht zu falschen und schädlichen Entscheidungen zu kommen. Ferner steht die politische Lüge quer zu mehreren demokratischen Kernelementen: Vertrauen, Kontrolle und Transparenz.“

Denn, so Marschall: „Moderne Demokratie ist stets repräsentative Demokratie. Ein Großteil der Entscheidungen wird von politischen Vertreterinnen und Vertretern, von Repräsentanten, gefällt. Repräsentative Demokratie lebt von der Vertrauensbeziehung zwischen diesen Vertretern auf der einen und den Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite.“ Eine Kultur der Lüge drohe, diese Vertrauensbeziehung zwischen Repräsentant und Repräsentierten zu untergraben. „Die Vermutung, dass Politikerinnen und Politiker lügen und damit für die Bürgerinnen und Bürger unberechenbar werden, belastet das Vertrauen. Vertrauensverluste führen wiederum zu politischer Entfremdung und Apathie – und letzten Endes dazu, dass in der Bevölkerung nicht mehr die erforderliche Unterstützung für das System aufgebracht wird.“

Warum sollten Eltern den Appellen von Politikerinnen und Politikern, ihr Kind impfen zu lassen, denn auch folgen?

Oder eben: für eigentlich notwendige, individuelle Schutzmaßnahmen in einer Pandemie. „Eine der wichtigsten Lehren aus der Corona-Pandemie ist: Die faktenbasierte und handlungsorientierte Information der Bevölkerung in Gesundheitskrisen ist unabdingbar“, so stellt der Expertenrat fest. Warum, das lässt sich in den Kitas und Schulen leicht anschaulich machen: Eine hohe Impfquote unter Kindern und Jugendlichen würde die Infektionsgefahren in den Bildungseinrichtungen senken. Tatsächlich aber dümpelt die Impfquote bei den Fünf- bis Elfjährigen unter 20 Prozent; den von der Stiko empfohlenen Booster haben gerade mal 23,9 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen erhalten. Warum sollten Eltern den Appellen von Politikerinnen und Politikern, ihr Kind impfen zu lassen, denn auch folgen? Sie wiederholen doch ständig: Schulen und Kitas sind sicher.

Die Virologin Prof. Isabella Eckerle, Leiterin des Zentrums für Neuartige Viruserkrankungen an den Universitätskliniken in Genf, hat zu dieser Art von Kommunikation eine klare Meinung: „Die Eltern werden verarscht.“ News4teachers

Kommentar

“Spiegel”-Kolumnistin Margarete Stokowski war unlängst selbst am Coronavirus erkrankt. Sie kommentiert das aktuelle Geschehen unter anderem so:

“Eine Pandemie ist eine Naturkatastrophe, aber eine schlecht gemanagte Pandemie ist eine doppelte. Ob die Durchseuchung gewollt ist oder hingenommen wird, ist im Endeffekt egal.

Wobei es mir inzwischen fast schon lieber wär, die zuständigen Politiker*innen wären wenigstens ehrlich. Sagt es doch, dass es euch hauptsächlich darum geht, die Wirtschaft am Laufen zu halten, und dass es euch vergleichsweise egal ist, wenn alte Menschen sich nicht mehr hinaustrauen, Kinder und Erwachsene Long Covid kriegen, wichtige Operationen verschoben werden müssen, Frauenhäuser überfüllt sind, mehr Leute an Krebs sterben und euer Ziel definitiv nicht ist, dass möglichst wenig Leute krank werden oder sterben oder arm werden oder verzweifeln. Sagt es doch wenigstens, dass euch der faschistische Gedanke, dass man auf die Schwächsten gut und gern auch verzichten kann, vielleicht doch ganz gut gefällt. Übertrieben? Dann beweist das Gegenteil.”

Hier geht es zur vollständigen Kolumne.

Affäre um mutmaßlich vertuschte Studie: Rabe räumt ein, frühzeitig informiert gewesen zu sein – und er verstrickt sich in Unwahrheiten

KMK-Präsidentin Hubig lässt über Expertenanhörung die Unwahrheit verbreiten (schon wieder!) – Experten verlangen Richtigstellung

Hat die KMK dem Bundestag Erkenntnisse über Schulschließungen verschwiegen, damit der ein Verbot beschließt?

Anzeige
Die mobile Version verlassen