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Corona-Bilanz: Warum Ärzte Infektionsschutz auch für Kinder sowie mehr Personal für Kitas und Schulen fordern

BREMEN. Der 126. Deutsche Ärztetag hat schwerpunktmäßig die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Jüngsten in der Gesellschaft in den Blick genommen. Kinder und Jugendliche hätten besonders gelitten, wie die Mediziner in ihrem Arbeitsalltag feststellten. Deswegen müsse deren Wohl bei der Pandemiebekämpfung in den Fokus genommen werden. Was die Ärztevertreter darunter verstehen, stellt sich allerdings differenzierter dar, als deren Spitzenfunktionäre mitunter öffentlich darstellen. So werden zwar Kita- und Schulschließungen abgelehnt – gleichzeitig aber Schutzmaßnahmen gefordert.

Der Deutsche Ärztetag hat sich intensiv mit Kitas und Schulen beschäftigt. Foto: Shutterstock

„Wir wissen heute, welche enormen Schäden die Schul- und Kita- Schließungen, diese monatelange Isolation durch die Kontaktbeschränkungen bei Kindern und Jugendlichen angerichtet haben“, sagte Ärztepräsident Dr. med. Klaus Reinhardt. Er verwies auf Zukunftsängste, erhöhten Leistungsdruck und Vereinsamung. Die Ministerpräsidentenkonferenz am 2. Juni müsse die Weichen stellen für einen sicheren Betrieb von Schulen und Kitas. Wer allerdings den Beschluss des Ärztetages liest, findet darin eine differenziertere Position als die von Reinhardt vertretene, der in der Vergangenheit immer wieder gegen Schutzmaßnahmen in Schulen – insbesondere die Maskenpflicht – polemisiert hatte („Vermummungsgebot“).

„Dem Verständnis von Kitas und Schulen auch als Orte des sozialen Lernens und der Begegnung muss Rechnung getragen werden“

So heißt es in zwar dem Papier: Rückblickend lasse sich feststellen, dass die Coronavirusschutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche vornehmlich dem Schutz der älteren Generation und bestimmter vulnerabler Gruppen dienten. „Pandemiebedingte flächendeckende Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Schulen müssen künftig vermieden und dürfen nur in extremen Krisensituationen in Erwägung gezogen werden. Dem Verständnis von Kindertageseinrichtungen und Schulen auch als Orte des sozialen Lernens und der Begegnung muss Rechnung getragen werden.“

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Gleichzeitig betonen die Ärzte aber auch: „Die Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die Orte des Erziehungs- und Bildungssystems müssen auch nach der Pandemie im notwendigen Umfang aufrechterhalten und für die zukünftigen Herausforderungen weiterentwickelt werden.“

Untersuchungen belegten inzwischen, dass eine durch SARS-CoV-2-Infektion resultierende COVID-19-Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen ohne relevante Vorerkrankungen zum ganz überwiegenden Teil mild verläuft. „Dennoch ist die primäre Krankheitslast einer COVID-19-Erkrankung, wenn auch in geringerem Ausmaß als in anderen Altersgruppen, auch für jüngere Altersgruppen bedeutsam. Neben der akuten COVID-19-Erkrankung wird in seltenen Fällen eine schwere Allgemeinerkrankung mit hoher Entzündungsreaktion (PIMS) beobachtet, für die ein Teil der Patienten einer intensivmedizinischen Behandlung bedarf. Zu beachten sind weitere mögliche schwere Begleit- oder Folgeerkrankungen, die erst im weiteren Verlauf der Pandemie offenbar werden und spezifisch die Gruppe der Kinder und Jugendlichen betreffen können.“

Deshalb fordern die Ärzte: „Die heranwachsende Generation muss daher auch künftig vor Infektionen geschützt werden. Hierfür ist neben der Anpassung und Weiterentwicklung der Schutz- und Hygienemaßnahmen eine bedarfsgerechte Anpassung der Vorhaltekosten im stationären Bereich der Kinder- und Jugendmedizin dringend erforderlich. Die wissenschaftlichen Analysen zu den Folgeerkrankungen und Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter durch die Pandemie sind noch nicht abgeschlossen. Die Forschungsprozesse müssen weiter gefördert und dauerhaft und adäquat finanziert werden.“

Betont werden die psychischen Belastungen für viele Kinder und Jugendliche, die aus Schutzmaßnahmen, aber auch aus direkten Pandemiefolgen entstanden. „Monatelang fehlender Präsenzunterricht, Homeschooling, die Reduzierung bzw. das Verbot von Sport- und Freizeitangeboten und hieraus resultierender übermäßiger Medienkonsum, Änderungen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten, die Auseinandersetzung mit Tod und Krankheit von Angehörigen, aber auch Arbeitsplatzverlust und existenzielle Ängste der Eltern, hatten und haben einen starken, negativen Einfluss auf die Entwicklung von Heranwachsenden. Studien belegen bereits eine deutliche Zunahme psychischer Auffälligkeiten und Erkrankungen in dieser Altersgruppe (vgl. COPSY-Studie). Dazu zählen u. a. Ängste, depressive Symptome bis hin zu Suizidalität, Essstörungen, Suchtprobleme und diverse Entwicklungsdefizite und -verzögerungen (sprachlich, kognitiv, körperlich).“

Tendenziell stärker betroffen seien Kinder aus sozial schwachen Familien. „Die aus diesem Gesamtkomplex resultierenden Belastungen für Kinder und Jugendliche sind zusätzlich in Abhängigkeit des sozioökonomischen Status mehr oder weniger stark ausgeprägt und können soziale Ungleichheiten weiter verstärken. Bereits vor der Pandemie bestehende Defizite insbesondere bezüglich Gewaltschutz (Kindesmisshandlung, -vernachlässigung, häusliche Gewalt), der Bekämpfung von Kinderarmut und dem Zugang zu Bildung für alle Kinder wurden im Verlauf der Pandemie verstärkt und die verschiedenen Problemfelder deutlich sichtbar“, so heißt es.

Eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche ist erforderlich”

„Kindertagesstätten und Schulen, die stets auch als wichtige Früherkennungsstellen für soziale Belange von Kindern und Jugendlichen fungieren, standen während der Lockdown-Maßnahmen nicht mehr zur Verfügung. Neben den genannten Faktoren kann auch die Auseinandersetzung mit Krankheit, Tod und existenziellen Ängsten im frühen Lebensalter zu starker emotionaler Verunsicherung führen. Aus genannten Gründen muss auch das Angebot kinder- und jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Beratung und Behandlung unter Einbezug der Eltern und Erziehungsberechtigten unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten deutlich ausgebaut werden.“

Die daraus abzuleitende Forderung des Ärztetags: „Die komplexen Folgen müssen auch durch ein entsprechend komplexes Maßnahmenpaket auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene unter Einbezug medizinischer Expertise aufgefangen und staatlicherseits vollumfänglich und nachhaltig finanziert werden. Aus Sicht der Ärzteschaft ist es zudem dringend erforderlich, dass die politisch Verantwortlichen einen besonderen Fokus zugleich auf Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien richten, um gesellschaftliche Fehlentwicklungen und eine weitere Verstärkung sozialer Ungleichheiten abzumildern.“

Das bedeutet aus Sicht der Ärzteschaft für die Kitas und Schulen konkret: „Eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche ist erforderlich. Vor allem Schulen in Brennpunktbezirken benötigen eine starke und gut qualifizierte Personaldecke und Ressourcen, um Benachteiligung aufgrund der sozioökonomischen Voraussetzungen auszugleichen.“

Pikant: Einen Seitenhieb auf die Ständige Impfkommission verkneifen sich die Ärzte nicht. Ausdrücklich im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen betonen sie in ihrem Beschluss: „Die personelle und finanzielle Stärkung der Ständigen Impfkommission (Stiko), um eine zeitnahe Aufarbeitung des aktuellen Stands des medizinischen Wissens zu gewährleisten und die flächendeckende Impfstrategie für Deutschland entsprechend anzupassen und weiterzuentwickeln“. Hintergrund: Die Stiko hat lange gezögert, bis sie eine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche herausgegeben hat. Bei Grundschülern erfolgte diese erst in der vergangenen Woche. Die Folge: Bis heute ist die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler in Deutschland nicht vollständig geimpft. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zum vollständigen Beschlussprotokoll.

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