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„Allgegenwärtigkeit in Klassenraum und im virtuellen Raum“: Was von Lehrkräften künftig erwartet wird

STUTTGART. Ein Blick in die Zukunft des Lehrerberufs: Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hat in dieser Woche den Entwurf eines „Referenzrahmens“ vorgestellt, der künftig als „verbindliche Orientierung für die Qualitätsentwicklung an öffentlichen Schulen“ dienen soll – und der nun in die Abstimmung mit Verbänden und Personalvertretungen geht. Das Papier kommt als 73-seitiges Aufgabenheft für Schulen und Lehrkräfte daher, in dem Banales („Lernmaterialien und Lernumgebung sind vorbereitet und zugänglich“) neben Unerfüllbarem („Die Lehrpersonen richten ihre Aufmerksamkeit auf das gesamte Geschehen und die Mitarbeit jedes Einzelnen in der Lerngruppe“) zu finden ist.

Die Ansprüche an Lehrkräfte steigen (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

„Völlig unstrittig ist, dass unsere Schulen und alle im Schulbereich Verantwortlichen nicht nur in Zeiten der Pandemie Großartiges geleistet haben und leisten. Dafür gebührt ihnen unser herzlicher Dank und unsere große Anerkennung“, erklärte Schopper (Grüne) bei der Vorstellung ihres Entwurfs für einen „Referenzrahmen Schulqualität“, der künftig als Leitlinie für die Schulen des Landes dienen soll. „Aber ebenso unstrittig ist, dass wir die Qualität unserer Arbeit auf allen Ebenen sichern, aber auch stets weiterentwickeln müssen.“ Dafür biete der Referenzrahmen Schulqualität eine wichtige Grundlage, denn „er trägt zu einem gemeinsamen Qualitätsverständnis bei“, meinte Schopper.

“Die gelingende Führung einer Lerngruppe ist eine zentrale Basis für den Lernerfolg und die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern”

Der Direktor des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW, das das Papier im Auftrag Schoppers entwickelt hat), Günter Klein, ergänzte: „Der Referenzrahmen basiert auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und soll ein gemeinsames Dach bieten, unter dem sich alle Schularten und Schulstufen wiederfinden. Er soll deutlich machen, was wir meinen, wenn wir von Qualität in Schule und Unterricht in Baden-Württemberg sprechen.“

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Was meint die Bildungsverwaltung denn damit? Um eine Vorstellung von der Fülle an Ansprüchen zu bekommen, der an Lehrkräfte künftig gestellt wird, macht es Sinn, sich zunächst die Qualitätsmerkmale für die „Tiefenstruktur“ des Unterrichts anzuschauen – die gerade mal zehn Seiten von insgesamt 73 umfassen. Von Inhalten ist dabei noch gar keine Rede. Vier Qualitätsmerkmale lassen sich dazu identifizieren.

Qualitätsmerkmal Nummer eins: strukturierte Klassenführung. „Die gelingende Führung einer Lerngruppe bzw. Klasse ist eine zentrale Basis für den Lernerfolg und die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern; bei den Lehrpersonen spielt die Klassenführung für das Erleben von professioneller Sicherheit eine ent- scheidende Rolle. Zu einer strukturierten Klassenführung gehört die Bewusstmachung von Zielen und Bezugsnormen, um für alle Beteiligten ein verlässliches Lern- und Arbeitsklima in der Klasse zu schaffen und um die verfügbare Lernzeit effizient zu nutzen“, so heißt es.

Die dazugehörigen Qualitätsstandards lauten zunächst: Zielorientierung („Die Lehrpersonen machen den Lernenden deutlich, welche Ziele in der Lerneinheit erreicht werden sollen“; „die Lehrpersonen reflektieren die Lernzielerreichung mit den Lernenden“) und Strukturierung des Unterrichts („Die Lernphasen bauen funktional aufeinander auf; die Handlungsanweisungen der Lehrpersonen sind inhaltlich klar und sprachlich gut verständlich“). Darüber hinaus: „Für den guten und störungsfreien Umgang miteinander liegen klare und begründete Regeln vor.“ Die seien mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam entwickelt worden.

Ohnehin: Der souveräne Umgang mit Unterrichtsstörungen wird als zentrales Merkmal guten Unterrichts verstanden („Die Lehrpersonen steuern vorausschauend das Geschehen in der Lerngruppe.“) Heißt konkret:

  1. „Die Lehrpersonen richten ihre Aufmerksamkeit auf das gesamte Geschehen und die Mitarbeit jedes Einzelnen in der Lerngruppe“ („Allgegenwärtigkeit in Klassenraum und im virtuellen Raum“, so wird die Forderung im Wortlaut überschrieben)
  2. Die Lehrpersonen setzen Strategien und Techniken ein, um Ablenkungen zu minimieren und Störungen vorzubeugen.
  3. Beim Umgang mit Störungen achten die Lehrpersonen darauf, die Aufmerksamkeit der Lerngruppe auf das Lernen möglichst aufrecht zu erhalten.
  4. Die Lehrpersonen identifizieren die Entstehung von Störungen und reagieren der Situation angemessen.“

Ohnehin gilt: „Die im Unterricht zur Verfügung stehende Zeit wird effektiv zum Lernen genutzt.“ Dazu zählt, dass der Unterricht pünktlich beginnt und endet – und es eben wenig Störungen gibt, die die Lernzeit beeinträchtigen.

Das zweite Qualitätsmerkmal: die kognitive Aktivierung der Schülerinnen und Schüler. Dazu heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler verbinden mit Lernen eine anregende, sich lohnende und positive Erfahrung. Sie gelangen durch herausfordernde und gleichzeitig passende Aufgaben und durch zum Nachdenken anregende Unterrichtsgespräche zu einem tieferen Verstehen des Lerninhaltes und erweitern so ihr Wissen und ihre Kompetenzen.“

Standards hierfür sind: „Der Unterricht knüpft an das Vorwissen und die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler an und zielt auf Verstehen und Kompetenzentwicklung im jeweiligen Fach bzw. Lernfeld.“ Die Auswahl und Gestaltung der Lernaufgaben förderten einen kognitiv aktivierenden und vertieften Lernprozess. Und: „In den Lerngruppen finden kognitiv aktivierende Gespräche zum Lerngegenstand statt, an denen sich die Schülerinnen und Schüler engagiert beteiligen.“ Die Schülerinnen und Schüler sollen zudem angeregt werden, eigene Strategien zur Bewältigung von Aufgabenstellungen und Konsolidierung des Lernstoffes „zu entwickeln und aktiv anzuwenden“.

Qualitätsmerkmal Nummer drei: konstruktive Unterstützung. “Konstruktive Unterstützung bedeutet emotionale und motivationale Unterstützung sowie adäquate Hilfestellungen und Förderung der Selbstständigkeit durch die Lehrperson. Eine positive Beziehung zwischen Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrpersonen sowie individuelle lernförderliche Rückmeldungen tragen nachweislich zur Steigerung der Lernmotivation und des Lernerfolgs bei.“

„Die Schülerinnen und Schüler werden im Sinne der Autonomieunterstützung befähigt, ihr Lernen selbst zu steuern“

Dazu zählen die Beziehungsgestaltung innerhalb der Lerngruppe („Die Lehrpersonen gehen mit ihren Schülerinnen und Schülern freundlich und wertschätzend um und sorgen für ein Klassenklima, das von einem respektvollen Umgang zwischen den Schülerinnen und Schülern geprägt ist“) und eine „positive Fehlerkultur“ („Die Lehrpersonen vermitteln die Haltung, dass Fehler ein Anlass sind, um zu einer guten Lösung zu kommen.“)

Wie sich die damit verträgt, dass Lehrkräfte nun mal auch schlechte Noten vergeben müssen und auch Konsequenzen vom Sitzenbleiben bis hin zu nicht vergebenen Abschlüssen zu verantworten haben, bleibt offen. Das Gleiche gilt für diese Forderung: „Die Lehrpersonen wecken und stärken bei ihren Schülerinnen und Schülern das Zutrauen in ihr Lern- und Leistungspotenzial.“ Weiterer Punkt: „Die Schülerinnen und Schüler werden im Sinne der Autonomieunterstützung befähigt, ihr Lernen selbst zu steuern.“ Last but not least: „Die Lehrpersonen geben zeitnah auf konkrete Lernprozesse bezogene, lernförderliche Rückmeldungen.“

Viertes Qualitätsmerkmal: der Umgang mit Heterogenität und Vielfalt – und, damit verbunden, das Engagement für Chancengerechtigkeit. Im Wortlaut: „Die Lehrpersonen sorgen für eine gute Lernumgebung, in der Verschiedenheiten der Schülerinnen und Schüler beachtet und Nachteile kompensiert werden. Die Lehrpersonen fördern Talente und Begabungen aller Schülerinnen und Schüler gleichermaßen. Unterschiedliche kulturelle Kontexte der Schülerinnen und Schüler werden anerkannt und berücksichtigt. Jeder Schülerin und jedem Schüler soll durch Angebote und Maßnahmen der Schule Teilhabe an Bildung und Gesellschaft ermöglicht werden.“

Soll in der Praxis bedeuten:

  1. „Im Unterricht gibt es für leistungsstärkere sowie leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler differenzierte Lernangebote.
  2. Die Lern- und Bildungsangebote berücksichtigen sprachliche und kulturelle Unterschiede der Schülerinnen und Schüler.
  3. An der Schule werden differenzierte Lern- und Bildungsangeboten bereitgestellt, die den besonderen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragen.
  4. Die Schule stellt ergänzend zum Regelunterricht attraktive und leicht nutzbare Förder- oder Zusatzangebote zur Verfügung.
  5. Die Ansprache und Dialogformen in der Schule berücksichtigen die sprachlichen Voraussetzungen und die kulturelle Diversität.“

Nebulös wird darüber hinaus gefordert: „Die Schule versucht Ungleichheiten durch kompensatorische Mittel zu reduzieren und nutzt dazu auch digitale Möglichkeiten.“ Und: „Die Lehrpersonen reflektieren die Gestaltung der Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern und weiteren am Schulleben beteiligten Partnern unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit.“ Sowie: „Die Lehrpersonen reflektieren ihre persönlichen Voreinstellungen bei der Bewertung von Schülerleistungen.“

Und was ist mit den Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen, damit Lehrkräfte die geforderten Qualitätsmerkmale guten Unterrichts überhaupt erfüllen können? Schließlich herrschen Lehrermangel und ein Sanierungsstau, den die GEW allein für Baden-Württembergs Schulen auf vier Milliarden Euro schätzt. Die Inklusion ist noch lange nicht vollzogen; auch die Digitalisierung der Schulen läuft äußerst schleppend. Dazu findet sich im Referenzrahmen: kein Wort. News4teachers

Hier geht es zum vollständigen Entwurf “Referenzrahmen Schulqualität Baden-Württemberg”.

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