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Inklusion: (K)ein Ding der Unmöglichkeit – Studieren mit geistiger Beeinträchtigung

OTTERSBERG. Amelie Gerdes betritt Neuland: Die junge Bremerin mit Trisomie 21 studiert an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg. Ihr Ziel: der Bachelor. Bundesweit gibt es dafür kaum Vorbilder.

Studierende mit Down-Syndrom sind selten – aber es gibt sie (Symbolbild). Foto: Shutterstock

Amelie Gerdes hat genaue Vorstellungen von ihrem beruflichen Werdegang: Die 18-Jährige möchte Schauspielerin werden – und studieren. Das Abitur hat sie nicht. Das allerdings ist nicht die größte Hürde dabei: Die Bremerin hat Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt.

Dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen regulär studieren, ist an deutschen Hochschulen bisher nicht vorgesehen. Sie arbeiten in der Regel nach der Schule in Werkstätten. Wenn Amelie Gerdes nur das Wort Werkstatt hört, wird sie resolut: «Da möchte ich nicht hingehen. Da würde ich unter meinen Fähigkeiten bleiben.»

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Stattdessen hat Amelie zum aktuellen Wintersemester an der Hochschule für Künste im Sozialen (HKS) im niedersächsischen Ottersberg zusammen mit drei weiteren jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten angefangen in Vollzeit zu studieren. Möglich macht dies das vom Land geförderte Pilotprojekt «Artplus», initiiert vom Hamburger Verband Kunst und Behinderung Eucrea. Alle vier jungen Leute bestanden die Begabten-Prüfung im Sommer, die ein Studium ohne Abitur ermöglicht. Das Ziel der Studierenden mit geistiger Beeinträchtigung ist der Bachelor-Abschluss.

«Bis vor kurzem ist man noch davon ausgegangen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht bildungsfähig sind»

«Tanz und Theater im Sozialen» nennt sich Amelies Studienfach. Tanzen und Theater spielen – das hat sie neben der Schule immer leidenschaftlich gern in unterschiedlichen Projekten gemacht. «Mich interessiert daran, in andere Welten hineinschlüpfen zu können», sagt sie. Sogar in einem ARD-Film hat sie mitgespielt, an der Seite von Alexander Held.

Mit Schauspielerei den Lebensunterhalt verdienen, könnte sich Amelie Gerdes deshalb gut vorstellen. «Das wäre cool, wenn ich mal im “Tatort” mitspielen könnte.» Ihre Mutter Elke Gerdes ist da etwas pragmatischer. «Es ist gut, wenn sie neben der Schauspielerei noch ein zweites Standbein hat», sagt sie. Mit dem Bachelor in der Tasche könnte Amelie Tanz- und Theaterprojekte leiten. Amelie begann daher zum Ausprobieren an der HKS zunächst als Gaststudentin. Schnell war klar: Dabei möchte sie bleiben. Nun galt es, die letzten Hürden zu überwinden.

«Bis vor kurzem ist man noch davon ausgegangen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht bildungsfähig sind und ihnen daher auch keine Hochschulbildung zusteht», sagt Angela Müller-Giannetti, Projektleiterin des Programms «Artplus». Inzwischen haben schon einige Hochschulen bundesweit Gaststudierende mit geistigen Beinträchtigen aufgenommen. Die HKS Ottersberg geht noch einen Schritt weiter: Als eine der ersten Hochschulen in Deutschland ermöglicht sie ein reguläres Studium.

«Wir kooperieren bereits seit 15 Jahren für Theaterprojekte mit Werkstätten», sagt HKS-Professor Hans-Joachim Reich. Die HKS hat sich zum Ziel gesetzt, inklusive Hochschule zu werden und dauerhaft Menschen mit Behinderung eine künstlerische Ausbildung zu bieten. «Den Weg, den wir mit der HKS gehen, stellt einen Paradigmenwechsel im Hochschulbetrieb dar», betont Müller-Giannetti.

«Das ist die größte Herausforderung: Wie bekommen wir die theoretischen Inhalte in eine andere Form übertragen?»

Die in Otterberg angebotenen Studiengänge haben einen hohen Praxisanteil, wissenschaftliches Arbeiten gehört aber genauso dazu. «Das ist die größte Herausforderung», weiß Professor Reich. «Wie bekommen wir die theoretischen Inhalte in eine andere Form übertragen?» Anfänge sind bereits gemacht. Reich hat im Fach Bewegungsanalyse für abstrakte Begriffe wie Kraft, Raum und Zeit passende Bilder herausgesucht. Für «viel Kraft» nimmt er etwa das Bild eines Gewichthebers.

Für vieles aber sei noch keine Lösung gefunden, zum Beispiel wie wissenschaftliche Texte verständlich gemacht werden können. «Ich finde es schön, dass die Studierenden sehen, dass wir noch nicht fertig sind», sagt Reich. «Es ist eine gemeinsame Aufgabe, das hinzukriegen.» Die jungen Menschen mit Beeinträchtigung bekommen Assistierende zur Seite gestellt, die an der HKS studieren. Sie sammeln dafür Punkte fürs Studium und erhalten ein Honorar. «Beide Seiten werden gegenseitig voneinander lernen können», ist Müller-Giannetti überzeugt.

Hürden gibt es aber auch ganz praktischer Art. Amelie und die anderen Studierenden wohnen in Bremen, die Hochschule ist 35 Kilometer entfernt. Bis Ottersberg fahren sie selbstständig mit der Bahn. Aber dann? Die Studierenden ohne Behinderung nehmen das Rad. Die vier mit geistigen Beeinträchtigungen aber brauchen einen Fahrdienst. «An so etwas Banalem kann das Ganze schon Scheitern», sagt Gerdes. «Da braucht es Menschen, die an einem Strang ziehen und gute Lösungen finden.»

Sieben Semester sieht das Regelstudium bis zum Bachelor vor. «Wir gehen davon aus, dass unsere Studierenden mit Lernschwierigkeiten neun bis zehn Semester brauchen werden», sagt Reich. Ob alle so lange durchhalten, sei nicht absehbar. «Dafür braucht man einen langen Atem.»

Amelie Gerdes aber ist sich sicher: Sie wird es schaffen. «Ich habe so einen Sturkopf. Ich kann alles durchsetzen, was ich will. Und ich weiß ganz genau, was ich will.» Von Janet Binder, dpa

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