DÜSSELDORF. Rund 200.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler besuchen mittlerweile deutsche Schulen – was die Lehrkräfte, ohnehin überlastet durch Personalmangel, Corona, Inklusion und Integration, an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringt. Ein Hilferuf des Bayerischen Philologenverbands («Wir sind keine Traumaexperten, und unser Zeitkontingent gewährt es auch nicht, psychosoziale Unterstützung im Einzelfall zu leisten») sorgte in der vergangenen Woche für große Resonanzen. Im Leserforum von News4teachers berichteten Lehrkräfte von ihren persönlichen Erfahrungen mit den Geflüchteten – wir veröffentlichen einen lesenswerten Dialog hier noch einmal.
TaMu, 25. Nov. 2022 um 11:23 Uhr
„Da kommen junge Menschen bei uns an, die letztes Jahr um diese Zeit noch keine Ahnung davon hatten, dass sich ihr Land ein Jahr später in ein Schlachtfeld verwandelt haben würde. In diesen Monaten haben sie Extremes erlebt, ihr Zuhause, Verwandte und Freunde verloren, die Väter, Opas, Brüder im Krieg, Angst vor schlimmen Nachrichten. Sie sitzen in deutschen Schulklassen, über die sie nie zuvor nachgedacht haben und sollen Deutsch lernen, dem deutschen Unterricht folgen und gleichzeitig am ukrainischen Unterricht teilnehmen. Sie wollen nicht ausgesprochen unhöflich sein, aber bei so viel Überforderung platzt ihnen irgendwann der Kragen. Kann sich eigentlich niemand in unserer Bildungspolitik vorstellen, wie extrem belastet diese Kinder und Jugendlichen sind? (…)“
Doris, 25. Nov. 2022 um 13:44 Uhr
„Ich unterrichte nun seit den letzten Osterferien verschiedene Lerngruppen von ukrainischen Schülern an einem Gymnasium in einer niedersächsischen Kleinstadt. Als freiberufliche Dozentin für Deutsch als Fremdsprache werde ich von einer kleinen NGO bezahlt, mir der das Gymnasium eine Kooperation eingegangen ist, weil die eigenen DaZ- Lehrer wegen des eklatanten Lehrermangels mit ihren beiden anderen Fächern im Regelunterricht eingesetzt werden müssen, um die reguläre Unterrichtsversorgung einigermaßen gewährleisten zu können.
Ich bin nach den Osterferien mit ähnlichen Gedanken wie Sie, TaMu, und großer Empathie gegenüber den ukrakrainischen Schülern in einer Willkommensklasse von 14 Schülern zwischen 10 und 17 Jahren gestartet.
“Mehrere Schüler weigerten in eine ihnen zugeteilte differenzierende Arbeitsgruppe zu gehen, die im Nachbarraum unterrichtet werden sollte”
Es zeigte sich aber schnell, dass nicht nur der Altersunterschied den DaZ-Unterricht erschwerte, sondern auch der sehr große Unterschied bei Allgemeinbildung und Fremdsprachenkompetenz bei gleichaltrigen Schülern. Wie ich erfahren habe, gibt es keine nationalen Curricula, sondern jede Schule bestimmt im Wesentlichen selbst Inhalte und Schwerpunkte ihres Unterrichts. So hatte ich mehrere 12-Jährige, die schon gut Englisch sprachen aber noch mehr 15-Jährige, die nur ukrainisch oder russisch sprachen.
Mit finanzieller Unterstützung meiner kleinen NGO stellte man mir eine Studentin an die Seite, mit deren Hilfe ich meinen Unterricht besser differenzieren konnte.
Aber bereits hier zeigte sich eine Respektlosigkeit gegenüber uns Lehrern, indem mehrere Schüler sich anfangs weigerten in eine ihnen zugeteilte differenzierende Arbeitsgruppe zu gehen, die im Nachbarraum unterrichtet werden sollte.
Nachdem das mit einer Mischung aus Strenge und Geduld endlich gelungen war, beanspruchte ein 15jähriger, der schon während der Osterferien im kirchlichen Gemeindezentrum die erste Lektion des Lehrbuchs bearbeitet hatte, ich solle etwas anderes machen, denn das könne er schon. Ich gab ihm daraufhin differenzierende Aufgaben und wies ihn (auf Englisch) darauf hin, dass auch die anderen 8 Schüler meiner Gruppe die Inhalte der ersten Lektion lernen müssten. Aber auch in den folgenden Tagen betonte er stets wie leicht das alles sei. Oder er weigerte sich eine email zu formulieren, „weil das in der Ukraine nur alte Leute tun“ etc. Erst als ich ihn aufforderte nach vorne zu kommen und den Unterricht für seine Mitschüler zu übernehmen, änderte sich sein Verhalten.
“Die Mütter riefen ihre Kinder oft während des Unterrichts an, obwohl ich darum gebeten habe, dies zu unterlassen”
Gleichzeitig erhöhte ich das Anspuchsniveau und die Unterrichtsgeschwindigkeit und führte wöchentliche Tests ein, was dazu führte, dass die Disziplin beim Bearbeiten der Aufgaben sich deutlich verbesserte. Nur wenig verbesserte sich allerdings das recht häufige laute Reden während des Unterrichts und das Spielen mit dem Handy – bis ich die Handys konsequent zu Beginn der Stunde eingesammelt habe, obwohl ich es eigentlich sinnvoll finde, wenn sie das Handy für Wortübersetzungen nutzen können.
Da die Mütter ihre Kinder oft während des Unterrichts angerufen haben, obwohl ich darum gebeten habe, dies zu unterlassen, ist bei mir der Eindruck entstanden, dass die Eltern den Deutschunterricht für ihre Kinder nicht unterstützen und ihn als lästig empfinden.
Da ich seit 2016 auch viele Kinder und Erwachsene aus anderen Krisen- und Kriegsgebieten unterrichtet habe und dort – trotz in der Regel viel schlechterer Vorbildung – viel mehr Lernwillen und deutlich mehr Respekt gegenüber den Lehrern erfahren habe, kann die Erfahrung von Krieg, Zerstörung, Verlust des Zuhauses und Angst um daheim gebliebene Verwandte keine hinreichende Erklärung für die außergewöhnlich große Disziplinlosigkeit im Unterricht bei vielen der ukrainischen Schüler sein.
Das teilweise respektlose Verhalten gegenüber deutschen Lehrern und manchmal sogar ehrenamtlichen Helfern ist für mich unerklärlich und ehrlich gesagt angesichts der großen Hilfsbereitschaft der deutschen Gesellschaft und Politik auch inakzeptabel.“
Tamu, 25. Nov. 2022 um 14:25 Uhr
„Danke, Doris, für Ihre Beschreibung und auch dafür, dass Sie diese Arbeit für junge Menschen, die geflüchtet sind, machen. Es ist erstaunlich, nicht nachvollziehbar und tatsächlich sehr respektlos. Konnten Sie mit den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern darüber reden? Mich interessiert, welche Gründe es für die Ukrainer gibt, sich so zu verhalten, um besser verstehen zu können. Ich dachte wirklich, es ist die Überforderung durch Fluchterfahrung, was möglicherweise immer noch unter diesem Verhalten steckt. Vielleicht fühlen sie sich wie auf einem Bahnhof auf der Durchreise und nehmen das hier alles nicht ernst? Ich weiß es wirklich nicht.“ News4teachers
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