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edu:regio-Diskussion: “Nicht nur konsumieren, sondern verstehen!” Warum (mehr) Filmbildung in die Schulen gehört – ein Plädoyer

DÜSSELDORF. Die edu:regio, die am 10. und 11. Februar erstmals in Düsseldorf stattfindet, widmet sich einer Vielzahl von fachlichen und praktischen Themen für Lehrkräfte. Blicke über den Tellerrand hinaus gehören allerdings auch zum Programm. Die Perspektive von Filmschaffenden steuert Marion Döring bei, die als Vorstandsmitglied der Wim Wenders Stiftung und ehemalige Geschäftsführerin der European Film Academy zu den profiliertesten Köpfen der Branche zählt. Im Vorfeld sprachen wir mit ihr darüber, warum Filmbildung für Kinder und Jugendliche gerade heute so wichtig ist.

Kinder und Jugendliche schauen Filme, reflektieren aber selten über die Inhalte. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

News4teachers: Die Wim Wenders Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Werk des Regisseurs zu erhalten und zu verbreiten und junge Filmemacher*innen zu fördern. Zusätzlich will sie Schülerinnen und Schülern ein besseres Verständnis für Film nahebringen. Worum genau geht es dabei?

Marion Döring: Im Bereich Filmbildung haben wir mit der von der Art Mentor Stiftung Luzern, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Paul und Mia Herzog Stiftung Düsseldorf unterstützten „Europäischen Schule des Sehens“ das erste eigene große Projekt entwickelt. Damit wollen wir einerseits das Thema Film vermitteln und darüber hinaus Jugendlichen im Oberstufenalter auch eine Auseinandersetzung mit der Frage „Was machen eigentlich die Bilder mit mir?“ ermöglichen. Heute werden ja mehr bewegte Bilder konsumiert als Bücher. Allerdings beherrschen wir zwar das Alphabet des Lesens, nicht aber das Alphabet des Sehens. „Wie erkenne ich, was gut ist und was schlecht?“, „Wie erkenne ich, wann ich manipuliert werde?“ Das sind ganz wichtige Fragen, bei denen man die jungen Generationen heute an die Hand nehmen muss, um sie zu begleiten in dieser digitalen Welt, in der sie ja sehr intensiv unterwegs sind. Das passiert tatsächlich in unserer Gesellschaft viel zu wenig.

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News4teachers: Die Sehgewohnheiten haben sich geändert und natürlich auch die Menge an Bildern und Reizen, die wir täglich aufnehmen. Wenn man sich das Phänomen YouTube Shorts oder TikTok anschaut, dann scheint die Aufmerksamkeitsspanne völlig minimiert zu sein…

Die edu:regio feiert in Düsseldorf Premiere

Lehrkräfte, aufgepasst! Informative Vorträge aus der Praxis, Gespräche mit Tiefgang, ein individuelles Fortbildungsprogramm und eine fachliche Ausstellung mit einem Schwerpunkt auf digitale Bildungsmedien – eigens für Sie (und alle anderen, die für Schule Verantwortung tragen): Das ist die edu:regio, ein pädagogisches Großevent, das am 10. und 11. Februar in Düsseldorf Deutschland-Premiere feiert.

3.000 Besucherinnen und Besucher werden erwartet – und prominente Gäste (wie Marion Döring). Achtung: Zehn Gratis-Tickets werden jetzt verlost!

Zur Verlosungsaktion geht es hier. Das komplette Programm und Tickets gibt es hier: www.edu-regio.de/duesseldorf-2023.

Döring: Junge Menschen sind heute eher darauf eingestellt, kurze Formate zu konsumieren. Auch Serien sind darauf ausgerichtet, diesem Bedürfnis nachzukommen. Die Aufmerksamkeit über einen ganzen Film zu halten, der normalerweise mindestens anderthalb Stunden dauert, das ist für viele heute schwierig. Wir führen das Projekt gerade zum ersten Mal durch mit insgesamt sechs teilnehmenden Schulen: dem Wim-Wenders-Gymnasium in Düsseldorf und der Carlo-Schmid-Oberschule, der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ), dem Heinz-Berggruen-Gymnasium, dem Herman-Hesse-Gymnasium und dem John-Lennon-Gymnasium in Berlin. Und wir stellen fest, dass die Schüler*innen sehr unterschiedliche Sehgewohnheiten haben. Manche sind richtig erfahrene Filmgucker*innen, denen man anmerkt, dass sie sich damit befasst haben oder auch schon an Workshops in den Schulen teilgenommen haben. Und dann gibt es andere, die konsumieren halt nur. Das Schöne ist aber: Wenn sich diese Schüler*innen auf das Projekt einlassen, dann verstehen sie sehr schnell, dass sie sich auf eine spannende Entdeckungsreise begeben. Man muss ihnen die Sprache der Bilder aber ein wenig aufschließen.

News4teachers: Wie genau nehmen Sie denn die Schüler*innen an die Hand?

Döring: Die Schüler*innen schauen während der Projektlaufzeit ­von etwa einem Jahr drei Filmpaare. Die wählen die Schulen aus einer Liste von zwanzig Filmen, die Wim Wenders vorgeschlagen hat, selbst aus – Filme, die ihm viel bedeuten, die mit seinem Weg als Filmemacher zu tun haben, und die er gerne den Jugendlichen nahebringen will. Es sind Filme von ihm dabei, sowie europäische Filme, die in der Filmgeschichte eine große Rolle gespielt haben, aber auch aktuelle Filme. Er hat zu jedem Film ein kleines Video aufgenommen, in dem er den Schülern erklärt, warum er diesen Film wichtig findet, was das Besondere an diesem Film ist, wie er erzählt wird. Die ersten beiden Filme, die im Rahmen des Projekts gezeigt wurden, sind „Cinema Paradiso“ von Giuseppe Tornatore aus dem Jahr 1988, ein sehr emotionaler Film über die Liebe zum Kino. Der andere ist der Film „Die Gebrüder Skladanowsky“, den Wim Wenders 1996 gemeinsam mit Filmstudenten der HFF München gedreht hat, und der von den Anfängen des Kinos erzählt. Die Brüder Max und Emil Skladanowsky aus Berlin waren in Deutschland die Entdecker des bewegten Bildes und haben es als erste umgesetzt. In Frankreich waren es die Brüder Lumière, die am Ende international bekannter waren. Aber die Brüder Skladanowsky waren echte Pioniere und Wegbereiter, und Wim Wenders wollte, dass die Schüler*innen verstehen, wie das angefangen hat, was sie heute auf ihrem kleinen Display am Mobiltelefon oder auf dem Computer-Monitor sehen. Diese Filme werden im Rahmen der „Europäischen Schule des Sehens“ übrigens alle im Kino geschaut. Die große Leinwand und das Gemeinschaftserlebnis des Schauens sind nämlich auch wichtig.

News4teachers: Und wie reagieren die Schüler*innen darauf? 

Döring: Die Reaktion ist sehr unterschiedlich. Es gibt Filme, mit denen sie sich schwerer tun, und es gibt Filme, die ihrer eigenen Lebenswelt viel stärker entsprechen. Zum Beispiel hatten wir gerade einen Film von François Truffaut dabei, „Wolfsjunge“, der 1970 entstanden ist und eine für heutige Schüler*nnen eher ungewohnte Erzählweise hat. Darauf müssen sie sich einlassen, um in die Geschichte einzutauchen. Der andere Film ist „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt, der erst vor ein paar Jahren ins Kino kam. Er erzählt über ein Mädchen, das in der Schule und auch sonst im Leben extreme Reaktionen zeigt und eigentlich gar nicht zu integrieren ist. Diese beiden Filme haben wir zusammen gezeigt. Da waren die Schüler*innen schon ganz schön aufgewühlt von dem, was sie gesehen haben. Und dann ist es eben gut, wenn man ihnen erklärt, wie diese Bilder gemacht sind, was diese Bilder erzählen, dass man also nicht nur konsumiert, sondern versteht.

News4teachers: Bekommen die Schüler*innen auch die Gelegenheit, eigene Filme zu drehen?

Döring: Ja. Sie bereiten die Filme zunächst gemeinsam mit Filmpädagogen nach und erstellen dann auch eigene kleine filmische oder fotografische Arbeiten oder auch Geschriebenes zu dem, was sie gesehen haben, um auch ihre Sicht auf die Welt auf ihre eigene Art darzustellen. Selbst Bilder zu kreieren, das ist gerade für diese Generation extrem spannend. Das ist das Medium, mit dem sie arbeiten. Heute kann jeder mit dem Handy Bilder aufnehmen. Aber das sind nicht automatisch gute, interessante Bilder. Das heißt, man muss auch ein bisschen was von dem Handwerk verstehen – vor allem, wenn man eine Botschaft vermitteln und Menschen erreichen will. Und das lernen sie im Projekt auch.

News4teachers: Wie wird es nach der ersten Projektrunde weitergehen? Können sich weitere Schulen bei Ihnen bewerben?

Döring: Wir hoffen natürlich, dass sich das Projekt langfristig etabliert und öffentlich oder aus privater Hand weiter gefördert wird, damit noch mehr Schulen teilnehmen können. Wir haben bereits jetzt für die nächste Runde 2024 Anfragen bekommen. Vielleicht werden sogar Schulen aus anderen Ländern dabei sein. Denn wenn man von einer „Europäischen Schule des Sehens“ spricht, ist es ja eigentlich auch ein europäisches Projekt.

Außerdem ist der Blick über den Tellerrand gerade in diesen Zeiten sehr wichtig. Wir haben heute mit viel Bewegung zu tun. Es kommen Menschen in unser Land, sie kommen aus Kriegszonen, aus anderen Kulturen, Religionen. Wir leben alle hier zusammen, und da ist Film, denke ich, das beste Medium überhaupt, zu vermitteln, wie das Leben woanders ist und auch, was diese Menschen an Erfahrungen mitbringen, wenn sie zu uns kommen. Wenn man reist, dann fliegt man irgendwo hin, man schaut sich die Städte an, man begegnet Menschen mehr oder weniger oberflächlich. Aber diesen intimen Einblick in ein Leben zu gewinnen und uns hinter die Kulissen schauen zu lassen, das ist eine besondere Qualität des Films.

News4teachers: Geht es bei der „Europäischen Schule des Sehens“ auch um ein Gegengewicht zur Hollywoodperspektive?

Döring: Ja, natürlich geht es auch darum, das Interesse für europäische Filme zu wecken. Die Schüler*innen gehen heute hauptsächlich in Hollywood-Filme. Wir leben aber in einem kulturell sehr vielschichtigen, vielfältigen, bunten und reichen Europa. Deshalb sollten wir auch die Filme aus anderen europäischen Ländern sehen. Das ist im Kino tatsächlich manchmal schwierig, obwohl es natürlich genügend europäische Filme gibt.

News4teachers: Böse Zungen behaupten, es gäbe beispielsweise kaum gute deutsche Filme. Ein Vorurteil?

Döring (lacht): Absolut! Vorurteile haben ja immer damit zu tun, dass man nicht genug weiß. Die Frage ist auch: Was ist ein guter Film? Das ist schwer zu sagen. Dafür gibt es genauso wie für die Architektur, Musik oder bildende Kunst keine festen Regeln. Am Ende muss man selber entscheiden, ob ein Film für einen gut ist, oder was man davon mitnimmt. Ich denke, jeder Film, der einen im Nachhinein beschäftigt, ist schon mal ein guter Film.

News4teachers: Das kann dann auch ein Marvel-Film sein?

Döring: Natürlich, es kann auch ein Avatar-Film sein oder ein Action-Film, na klar. Also, es heißt nicht, dass ein guter Film immer ein furchtbar ernster Film oder ein Autorenfilm sein muss – gar nicht. Es kann auch ein großer Box-Office-Hit sein. Jeder Film kann gut sein, wenn er gut erzählt ist. Die Geschichte sollte aber vielschichtig sein. Es gibt viele Filme, die eindimensional sind, in denen einer den anderen jagt, und am Ende gewinnt der Gute. Das sind für mich keine guten Filme. Aber ein Film, der unterschiedliche Perspektiven beinhaltet, wo ich zum Beispiel nicht nur die Geschichte aus der Sicht eines einzigen Menschen sehe, und der mir unterschiedliche Erlebnisse und Erfahrungen näherbringt, hat das, was einen guten Film ausmacht. Das kann auch eine Komödie sein.

News4teachers: Apropos Komödien: Was halten Sie denn von Darstellungen von Schule im deutschen Film wie in „Fack ju Göhte“ oder „Frau Müller muss weg“?  

Döring: Das sind unterhaltende Filme, die ihre Berechtigung haben, und ich finde, man darf auch mal über Schule lachen. Es gibt aber auch andere Darstellungen von Schule, zum Beispiel, wo das Thema Mobbing eine wichtige Rolle spielt, oder wo verschiedene Kulturen und Mentalitäten aufeinandertreffen.

News4teachers: Sie haben bereits erwähnt, dass Film im Leben der meisten Jugendlichen viel präsenter ist als Literatur. Und dennoch kommt er in der Schule häufig eher als Mittel zur Motivation oder Belohnung vor Ferienbeginn zum Einsatz. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass diese für unsere Kultur doch so wichtige Kunstform nur selten fester Unterrichtsbestandteil ist?

Marion Döring, gelernte Journalistin und ehemalige Geschäftsführerin der European Film Academy, setzt sich als Vorstandsmitglied der Wim Wenders Stiftung für eine verstärkte Filmbildung in Schulen ein. Foto: privat

Döring: Ich habe die Erklärung nicht wirklich. Es gibt leider oft die Idee, dass Film lediglich Unterhaltung und keine Bildung ist. Aber das stimmt einfach nicht. Wenn man in die Filmgeschichte schaut, ist Film auch Bildung, und er bringt uns andere Menschen, Sichtweisen und Erfahrungen näher. Ein guter Film vermittelt in kurzer Zeit wahnsinnig viel. Deshalb ist es schade, dass das Bildungssystem das noch nicht ausreichend anerkannt hat. Film ist, so sagt man, die siebte Kunst. Das heißt, die Kunst, in der sich alle anderen Künste vereinigen. Und deswegen ist Film auch ein gutes Medium, um sich mit den anderen Künsten zu beschäftigen. Im Lehramtsstudium ist Film immer noch Nebensache. Aber, wenn der Film den entsprechenden Stellenwert in der Schule hätte, wäre es doch denkbar, dass man auch einen Filmwissenschaftler oder eine Filmwissenschaftlerin als Lehrer*in an einer Schule beschäftigt. Dafür muss man natürlich den Raum schaffen. Das ist eine Aufgabe, die die Bildungspolitik übernehmen muss. Aber zuerst einmal muss sie erkennen, wie wichtig Film eigentlich ist für die Bildung. Sonja Mankowsky, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

News4teachers ist Medienpartner der edu:regio und wird umfassend über die Veranstaltung berichten. Marion Döring wird am 10. Februar um 14 Uhr live auf der edu:regio zu erleben sein. Mehr über die „Europäische Schule des Sehens“ und die Wim Wenders Stiftung: https://wimwendersstiftung.de/  

Passgenaues regionales Angebot für die schulische Praxis: Die edu:regio feiert in Düsseldorf Premiere – Freitickets zu gewinnen!

 

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