BERLIN. Vor über 116 Jahren – genauer: am 1. Januar 1907 – eröffnete Maria Montessori in Rom ihr erstes Kinderhaus, was als Geburtsstunde der nach ihr benannten Pädagogik gilt. Ein alter Hut also? Keineswegs, wie im folgenden Gastbeitrag erläutert werden soll. Denn Montessori liefert auch für die zwei Zukunftsthemen Digitalisierung und Nachhaltigkeit passende Antworten. Die Autorinnen wissen aus der Praxis, wovon sie schreiben: Jana Reiche ist Leiterin der Landwegschule im brandenburgischen Groß Pankow, die Biologin und Buchautorin Dr. Silke Kipper ist Lehrerin dort. Die beiden stellen ihre Thesen am 9. März 2023 auch auf der Bildungsmesse didacta in Stuttgart am Stand von Montessori Deutschland* vor.
Maria Montessori hätte ein Tablet
Der Nachhaltigkeit verpflichtet, auf der Montessoripädagogik fußend und digital vordenkend? In Anlehnung an Werbespots aus analoger Zeit könnte man meinen, das sind ja gleich drei Dinge auf einmal? Doch in der Praxis gibt es sie bereits, diese Synergien, die aus der Kombination dieser Ansätze entstehen und die einer neuen Art des Lernens den Weg bereiten.
Reformpädagogik in modernem Gewand
Als Reformpädagogik wird gemeinhin die große Bewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet, in der die Pädagogik sich als ein neuer Wissenschaftszweig herauszubilden begann. Beeinflusst von den großen neuen Themen der Philosophie und Psychologie jener Zeit sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Medizin formte sich ein neuer Blick auf das Kind und damit auch auf sein Lernen. Ernstzunehmende Lerntheorien oder neurophysiologische Forschung zum Lernen existierten noch nicht.
Kennen Sie Albert Nienhuis? Der niederländische Zimmermann stellte in enger Zusammenarbeit mit Maria Montessori Lernmittel her, die ihrer pädagogischen Vision entsprachen. 1929 gründete er Nienhuis Montessori, den weltweit führenden Anbieter von Montessori-Materialien. Nienhuis Montessori ist auch auf der Bildungsmesse didacta 2023 vertreten.
Seit über 85 Jahren vereint das Unternehmen Handwerkskunst mit technischer Finesse. Die Produktwelt von Nienhuis Montessori ermöglicht es Kindern heute so gut wie zu Albert Nienhuis Zeiten, ihre Welt eigenständig zu erkunden. Wir nutzen nur beste Materialien, verarbeitet mit Sorgfalt, Hingabe, dem Blick fürs Detail – und einer tiefen Verbundenheit mit der Pädagogik Maria Montessoris. Seit Jahrzehnten bereits ist Nienhuis Montessori offiziell von der Association Montessori Internationale anerkannt.
Hier bekommen Sie weitere Informationen über Nienhuis Montessori.
Besuchen Sie uns auf der didacta 2023 in Stuttgart! Halle 7, Gang D, Stand 81
Es war ein Anliegen der Reformpädagogik, Schule und Erziehung durch neue Praxisansätze zu revolutionieren, auch um dem damals herrschenden Kulturpessimismus zu begegnen. Reformpädagogik richtete sich gegen die Herrschaft des Lehrplanes, gegen die Dominanz rezeptiver Lernformen, gegen den Zwangscharakter und das Übergewicht des intellektuellen Lernens anstelle der Erziehung des ganzen Menschen. [1] In den zur Zeit tagesaktuell geführten Diskussionen zur gängigen Schulpraxis lassen sich genau diese Kritikpunkte herausfiltern.
Insofern könnte der Begriff Reformpädagogik auch heute noch Anwendung finden, selbst wenn moderner klingende Begrifflichkeiten wie „Neues Lernen“ oder „Zeitgemäße Bildung“, häufig eng verknüpft mit Digitalisierung, geprägt wurden. Die historischen Parallelen sind besonders in einem Punkt interessant. Die damalige Maßgabe, sich die Gehalte der Reformpädagogik intellektuell und historisch redlich in kritisch-diskursiver Form zu erschließen [2], gilt auch heute noch.
Die Montessoripädagogik lässt Lernende vom Ganzen zum Detail und wieder auf das Ganze schauen. Dabei geht es um das Zusammenspiel von Natur, Mensch und Kultur. Es ist von Vorteil, dass zwar vieles am Beispiel, also am Material geübt, im Weiteren dann jedoch an der Wirklichkeit überprüft wird. Folgerichtig ist es unabdingbar, dass wir uns in Rahmen der Montessoripädagogik auf moderne Entwicklungen einlassen, sie sozusagen konzeptionell integrieren.
Für Maria Montessori war es zentral für den Fortbestand unser Spezies, dass in Kindern das Gefühl der Verantwortung für die Menschheit kultiviert wird; unter anderem dadurch, dass sie auf den Grundlagen der Naturgesetze aufwachsen [3] und somit früh ein Gefühl für die Zusammenhänge zwischen Natur, Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft entsteht. So entwickeln sich Wertevorstellungen wie ökologisches Bewusstsein, der Gedanke der „einen“ Welt, die Bewahrung des Friedens und die Ehrfurcht vor Errungenschaften vorangegangener Generationen. [4] „Sie scheint die einzige pädagogische Reformerin der damaligen Zeit zu sein, welche die ökologische Denkform ausdrücklich zur Grundlage eines umfassenden Bildungskonzeptes gemacht hat.“ [5]
Damit hat sie eine Grundvoraussetzung festgelegt, die vorwegnahm, was wir heute meinen, wenn wir von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sprechen. Mit dem Leitspruch „Hilf mir, es selbst zu tun“ bemächtigte sie das Individuum, für sein Lernen und sein ganzes Handeln Verantwortung zu übernehmen und das Umfeld mitzugestalten. Dieser individuelle Zugang zu Erkenntnis schließt ein, Dingen auf den Grund zu gehen, weil man sie noch nicht verstanden hat und Fehler zu riskieren. Er ist damit ein bestens geeigneter Rahmen für die Medienbildung und BNE. „Es ist nicht nötig, dass die Untersuchungsarbeit ganz vollendet wird. Es genügt, die Idee zu verstehen und nach ihren Angaben voranzuschreiten.“ [6] Wenn die Lehrkraft die Möglichkeiten der modernen Medien als solche verstanden hat, wenn sie die Details der 17 SGDs kennt, dann kann sie diese sehr gut im Rahmen ihrer konzeptionellen Leitlinien erproben und die Unterrichtsumgebung entsprechend vorbereiten. Dabei wird sie von dem Vorwissen und dem Forschungsdrang ihrer Schüler:innen, der Fehlerfreundlichkeit, sowie dem Ethos des lebenslangen Lernens innerhalb ihres Teams profitieren.
Mit der Nachhaltigkeit ist es ein Dilemma
Umso notwendiger und relevanter das Verständnis bezüglich der Nachhaltigkeit wird, umso verwaschener scheint der Begriff zu werden. In der öffentlichen Wahrnehmung ist es eine werbewirksame Schlagzeile, selbst in der schulnahen Fachöffentlichkeit wird BNE allzu häufig auf verantwortliches Umwelthandeln reduziert. Wir sollten den Begriff jedoch nicht verwässern, sondern in Fachdiskussion und in Folge in der Praxis unbedingt schärfen. Denn die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zielt auf unsere Lebensgrundlage, ohne die der Fortbestand der Menschheit nicht denkbar ist.
Es geht um verschiedene Aspekte und Kompetenzen, die in der Summe jedoch eine friedliche, inklusive, Gesellschaft fördern, die einen auf Langfristigkeit und faire Verteilung zielenden Umgang mit Ressourcen pflegt. Diese Gesellschaft wird auch Antworten auf die Fehler der Vergangenheit und Gegenwart finden müssen. Um diese existenziellen Fragen zu beantworten, wird ganz bestimmt nicht der traditionelle Bildungskanon ausreichen und klassische Bildungs-Tugenden auch nur begrenzt. Nur wer versteht, wie eine Gesellschaft strukturiert ist, welche Interessen sie verfolgt und wie sie kommuniziert, der kann sich innerhalb der Strukturen engagieren und hat so das Potenzial, zu diesem großen Ziel beizutragen. Im Vorteil ist also, wer Verbindungen herstellt, um die Ecke denkt, Absichten erkennt, sich mit Informationen versorgen kann und in Netzwerken agiert.
In der Montessoripädagogik schauen wir uns die Welt in ihrer Ganzheit, ihren Zusammenhängen an. Wir liefern dabei keine Lösungen, wir gehen mit den Kindern auf Erkenntnisreise mittels des Materials und mit allen Sinnen. Vor allem aber mit echten Erfahrungen, die das Leben nicht nur simulieren. Von großem Erkenntniswert und Entwicklungspotenzial können dabei langfristig wachsende Projekte sein. Als Beispiel der praktischen Umsetzung eines solchen sei unsere Schülerfirma beschrieben. Schüler:innen diskutieren ja häufig die Frage der Schuluniformen, im Deutsch- und Englischunterricht, aber auch privat. Das bietet Diskussionspotential für ethische Fragen.
In unserem Fall ist aus dieser Diskussion eine Schülerfirma entstanden, die nachhaltig produzierte T-Shirts designt und ein Rücknahme-System für nicht mehr passende Shirts anbietet, so dass eine Kreislaufwirtschaft en miniature entstanden ist. Werbung für die T-Shirts und die Firma wurde unter anderem über den Schüler:innen-Blog gemacht. Eine Domain für einen Webshop ist bereits gesichert. Das Projekt stellten die Grundschüler:innen der vierten bis sechsten Klasse bereits mittels analoger und digitaler Präsentationen auf verschiedenen Treffen vor, unter anderem bei „Bildung, Bits und Bäume“-Festival an der Technischen Universität Berlin. Sie erprobten so den öffentlichen Diskurs.
Oder wie wäre, es unter dem Motto „Wir produzieren selbst“ die Herstellung und Zubereitung von Nahrungsmitteln zu üben und das gemeinsame Essen zu zelebrieren? Viele Schulküchen sind aufgrund der hohen Betriebskosten inzwischen zwar verwaist, aber doch noch funktional und können für einen solchen Tag genutzt werden. Gelernt wird auch in diesem Format sehr viel. Die Kinder wiegen und messen, lernen unverarbeitete Lebensmittel und deren Zubereitung oder Verarbeitung kennen, üben sich in Techniken der Nahrungszubereitung, gestalten Schilder und schreiben Rezepte auf. Gleichzeitig können sie die Einheiten der Masse oder Hohlmaße kennenlernen. Umrechnen lernen hat hier einen ganz praktischen Sinn. Ganz nebenbei werden sie auch noch viel über gesunde Ernährung herausfinden und über Essvorlieben und Erfahrungen miteinander ins Gespräch gehen. Dieses Angebot könnte sogar durch interessierte Eltern unterstützt werden.
Eine solche fächerübergreifende, quasi transdisziplinäre Herangehensweise ist schwerlich im starren Korsett traditioneller Unterrichtsmodelle umzusetzen. Im Gegenteil, es braucht das Vertrauen in die hohe Selbstmotivation der Kinder, Neues zu entdecken, mit Bekanntem zu verknüpfen, Folgefragen zu stellen. Und das nicht unbedingt in der Reihenfolge und Geschwindigkeit, die ein fächerbasierter Frontalunterricht im 45-Minuten-Takt vorgibt. Natürlich darf die moderne Schule es nicht verpassen, Basiskenntnisse zu vermitteln und Basiskompetenzen zu trainieren. Dabei tradierte Lernformen zu verlassen, ist unter anderem auch so schwierig, weil nachhaltig erfolgreiche Unterrichtspraxis an bestimmte Gelingens-Voraussetzungen geknüpft ist. Aber es lohnt sich!
Der Bezug zum Alltag, das Entdecken mit allen Sinnen, das eigenständige Forschen und Experimentieren fördert beim und neben dem Erlernen der Basiskenntnisse auch die „21st century skills“ Kreativität, Kommunikation, kritisches Denken und Problemlösen sowie Kollaboration. Grenzt es nicht an Magie, dass eine vor mehr als 100 Jahren entwickelte Pädagogik genau diese Fähigkeiten ins Zentrum des Lernens rückte? Chapeau, Frau Montessori! Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrags. der praktische Beispiele liefert.
* Montessori Deutschland ist auf der didacta in Halle 7, Gang D, Stand 80 zu finden. Hier geht es zum vollständigen didacta-Programm von Montessori Deutschland.
[1] vgl. dazu Skiera, E: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: Eine kritische Einführung, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2014, Vorwort
[2] vgl. Skiera, E. ebenda, S.1
[3] vgl. Balsamo, Elena: Libertà e amore-Lapproccio Montessori per unéducazione secondo natura, Torino:Il leone verde, 2010, S. 14
[4] vgl. Klein-Landeck/Pötz Montessori – Pädagogik, Einführung in Theorie und Praxis, 2011, S.100.
[5] Ludwig, Harald: Kosmische Erziehung bei Maria Montessori. Ein frühes Konzept ökologisch orientierter Pädaogogik. In: Humane Ökologie, 2012, S. 43
[6] Montessori, Maria: Über die Bildung des Menschen, 1966, S. 28
Bildungsarbeit in allen Entwicklungsstufen meistern: Montessori Deutschland lädt zur didacta 2023
