BERLIN. Die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Prof. Susanne Lin-Klitzing, hat mit Blick auf den Lehrermangel eine Rücknahme der sogenannten Bologna-Reformen in der Lehrerbildung gefordert – weg von Bachelor- und Masterabschlüssen, wieder hin zum Staatsexamen. „Aus den Erfahrungen der letzten 20 Jahre schließe ich, dass primär vor allem dort, wo die Lehrerbildung verwässert, zusammengelegt und ‚polyvalentiert‘ wurde, häufig besonders viele Lehrkräfte fehlen“, sagte sie im Gespräch mit News4teachers.
„Nach meiner festen Überzeugung ist die Lehrerbildung ein Teil des Problems Lehrkräftemangel – jenseits der Debatten in der jüngeren Vergangenheit um einen zu hohen Numerus clausus für Grundschullehrkräfte und viel zu wenige Studienplätze für sie“, so erklärt Lin-Klitzing. Kultuspolitiker und -politikerinnen hätten mit Bologna einen grundsätzlichen Denkfehler begangen, der sich heute räche. Hintergrund: Fast alle Bundesländer haben auch in der Lehramtsausbildung auf das 1999 im italienischen Bologna von der EU vereinbarte Bachelor-Master-System umgestellt. Das tradierte Studium mit Staatsexamen hält sich (meist modularisierter als früher) noch in Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und – teilweise – in Sachsen-Anhalt.
Die Philologen-Chefin, bis zu ihrer Wahl an die Verbandsspitze 2017 selbst für die gymnasiale Lehrerbildung an der Philipps-Universität Marburg zuständig, erklärt: „Bologna bedeutete ja für die Lehrerbildung: Polyvalenz schaffen, deshalb wurden die für das Lehramt sachfremden Abschlüsse Bachelor und Master in der Zuständigkeit der Wissenschaftsministerien eingeführt. Diejenigen Studierenden, die gerne Lehramt studieren wollten, sollten eben nicht darin gehalten und nicht auf das Lehramt ‚eng geführt‘, sondern ihnen sollte von Studienbeginn an klar gemacht werden, dass es für sie auch noch andere Berufsoptionen gibt. Damit waren die Kultusministerien auch nicht mehr in der Verantwortung, die angehenden Lehrerinnen und Lehrer anschließend einzustellen. Das rächt sich jetzt: Denn heute, wo wir jeden Einzelnen dringend bräuchten, verlieren wir durch die polyvalenten Bachelor- und Masterabschlüsse potenzielle Lehrkräfte an andere – nicht selten auch attraktivere – Berufsoptionen.“
„Wir müssen die Attraktivität, die Spezialisierung und Professionalisierung der Lehrkräfte stärken”
Sie betont: „Meine These: Besonders dort, wo es eine lehramtsunabhängige Ausbildung gibt und wo es keine klaren weiteren Schulsäulen neben dem Gymnasium gibt, dort gibt es den meisten Lehrkräftemangel. Warum? Weil keiner weiß, auf welchen Beruf er sich gerade einlässt und weil keiner weiß, an welcher Schulart er landet.“
Die Gymnasien hätten dieses Problem (bis auf die Mangelfächer) nicht, so Lin-Klitzing, denn das Gymnasium sei die einzige weiterführende Schulart, die es in jedem Bundesland gibt. Die Konsequenz: „Wir müssen die Attraktivität, die Spezialisierung und Professionalisierung der Lehrkräfte stärken und gerade keine schulartunabhängige Lehramtsausbildung angehen, sondern Lehrkräfte für eine Schulart ausbilden, die Profile der Schularten eher schärfen, nicht zusammenlegen. Und das Studium wieder klar auf den Beruf ausrichten – organisatorisch wie inhaltlich: durch das Staatsexamen.“
Ist das nicht ein alter Hut? Lin-Klitzing: „Das Staatsexamen bot und bietet den Kultusministerien in Bezug auf die Studiendauer und auf die Prüfungsinhalte den Zugriff auf die Lehrerbildung. Aktuell ist die Lehrerbildung in der ersten Phase in vielen Ländern allein Aufgabe des Wissenschaftsministeriums bzw. der jeweiligen Universität, viele Kultusminister beklagen mittlerweile den daraus resultierenden mangelnden Einfluss auf die Lehrerbildung in der universitären Phase. Diese damalige Fehlentscheidung muss aus meiner Sicht re-reformiert werden.“
Statistisch würden der Bachelor- und der daran sich anschließende Masterabschluss immer seltener in der Regelstudienzeit abgeschlossen. BA/MA-Abschlüsse seien in der Regel auf zehn Semestern angelegt, Studierende verblieben dafür oft zwölf Semester an der Hochschule.
Lin-Klitzing: „Die meisten Bundesländer versuchen, die längere Studienzeit durch die Kürzung des Referendariats zu kompensieren (doppelt falsch!), was den Einfluss der Kultusministerien zusätzlich schwächt und für die angehenden jungen Lehrkräfte die Zeit und das Hineinwachsen in die zunehmende Eigenverantwortung für unterrichtliches und schulisches Handeln zusammenkürzt. Mit einem Staatsexamen hingegen wird Kultushoheit gewährleistet, kann eine kürzere sechs-, acht- oder neunsemestrige Regelstudienzeit festgelegt werden, an die sich ein reguläres, eben nicht verkürztes Referendariat anschließt. Dann bekommen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer das, was sie brauchen und was auch die Schülerinnen und Schüler verdienen: eine Ausbildung aus einem Guss, die speziell auf den Beruf vorbereitet. Und eine solche Fokussierung würde verstärkend dazu beitragen, dass Studierende im Lehrerbildungsstudiengang bleiben und nicht durch ein auf Polyvalenz angelegtes System sowohl weniger spezifisch ausgebildet als auch an andere Berufe verloren gehen würden.“
Warum dann nicht noch einen Schritt weiter gehen – und eine Art dualer Lehrerausbildung anbieten, also eine bezahlte, die mit praktischer Arbeit in der Schule einhergeht? Lin-Klitzing: „Dieser Vorschlag resultiert ja aus der Not. Neben dem, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass die Kultusministerien die Kosten tragen wollten, denn eine solche Konzeption wäre ja letztlich länger und teurer, wenn man keine inhaltlichen Abstriche machen wollte, argumentiere ich hier inhaltlich dagegen: Unterrichten zu lernen, sich um Kinder und Jugendliche kümmern zu lernen, verantwortungsbewusst Noten geben zu lernen, in Elterngespräche einzutreten, das bedarf einer begleiteten und auch zeitlich intensiven Einführung.“
Referendare und Referendarinnen hatten laut Lin-Klitzing früher in der Regel ein Jahr zur Verfügung, nur um sich als junge Lehrkraft in die Schule und den Unterricht ‚einzusozialisieren‘ und erste Unterrichtsversuche zu unternehmen – und begannen dann im zweiten Referendarsjahr mit acht Stunden Unterricht, den sie zunehmend qualifiziert durchführen sollten, unterstützt durch die begleitenden Schulungen durch das Studienseminar und begleitende Lehrkräfte im Lehrerkollegium – und das nach einem abgeschlossenen Studium.
“Zukünftige Lehrkräfte wollen zielgerichtet ausgebildet werden – nicht schulartunabhängig, ohne Kenntnis, wo sie später landen“
Lin-Klitzing: „Das füllte ihre volle Arbeitszeit – und wurde und wird von ihnen als überaus anstrengend und anspruchsvoll wahrgenommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das mal eben locker nebenbei zu einem Studium gut bewerkstelligen kann – und das auch noch gut genug für die zu unterrichtenden Schülerinnen und Schüler wäre. Das unterschätzt ja auch die Notwendigkeit der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung in den Fächern als Grundlage fundierten Unterrichts.“
Ihr Fazit: „Ich würde den Kultusministerinnen und -ministern empfehlen, für das grundständige Lehramtsstudium zum Staatsexamen mit sechs, acht, neun Semestern Regelstudienzeit zurückzukehren, mit einem anschließenden zweijährigen Referendariat, das begleitet wird von den Profis an den Studienseminaren, die als Fachleute für die Begleitung der Referendare in dieser Phase kundig und professionell zuständig sind. Zukünftige Lehrkräfte wollen zielgerichtet ausgebildet werden – nicht schulartunabhängig, ohne Kenntnis, wo sie später landen.“ News4teachers