DÜSSELDORF. Im deutschen Bildungssystem gibt es viele Baustellen. News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek sprach auf dem Bildungsevent edu:regio in Düsseldorf mit der nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Anne Deimel über die Herausforderungen, mit denen Deutschlands Kitas und Schulen aktuell konfrontiert sind. Das Video vom Interview ist nun erschienen.
Die ehemalige Grundschullehrerin und -leiterin Anne Deimel sagt, dass die Stimmung gerade an den Grundschulen sehr schlecht sei. Die Schulleitungen wüssten teilweise nicht, wie sie den Unterricht gestalten sollen, weil schlicht und einfach das Personal dazu fehlt. „Die Situation ist wirklich ein Drama“, konstatiert Anne Deimel. „Die Schule sollte doch eigentlich ein Ort sein, an dem Freude am Lernen vermittelt wird. Stattdessen wird hier der Mangel verwaltet.“
An allen Schulen ist die Belastung für die Lehrkräfte hoch, aber an Grundschulen ist es besonders schlimm. Allein in Nordrhein-Westfalen fehlen hier 3500 Lehrkräfte. Teilweise würden Klassen für den Vertretungsunterricht zusammengelegt oder Lehrkräfte verbringen mit ihren Schulklassen einige Zeit auf dem Schulhof anstatt zu unterrichten, da der Krankenstand bei den Lehrkräften so hoch ist, dass teilweise kein Unterricht mehr stattfinden kann. Die Politik habe jahrelang die Augen vor der Situation an den nordrhein-westfälischen Grundschulen verschlossen.
„Als Lehrkraft kann ich die Gesellschaft mitgestalten, weil ich mit der Bildung der Kinder den Grundstein für die Zukunft lege“
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hatte kürzlich einen Maßnahmenkatalog mit Empfehlungen veröffentlicht, wie dem Lehrkräftemangel begegnet werden kann. Darin sind unter anderem Empfehlungen für Achtsamkeitstraining oder zur Stärkung der Kompetenz in der Gesprächsführung zu finden. „Leider haben Politik und Wissenschaft das systemische Problem nicht verstanden“, kommentiert Anne Deimel die Liste. „Das Problem wird den Lehrkräften zugeschrieben. So nach dem Motto: ‘Macht mal ein bisschen Yoga und dann wird alles in der Schule besser`. Das ist meines Erachtens der falsche Lösungsweg.“
Der Maßnahmenkatalog sieht zudem vor, die Teilzeitmöglichkeiten für Lehrkräfte einzuschränken. Ein Irrweg. Denn, so Anne Deimel im Interview mit News4teachers, viele Lehrkräfte würden in Teilzeit arbeiten, um sich vor dem Burnout zu schützen. Das sei eine resiliente Entscheidung und deshalb müsse die Möglichkeit zur Arbeit in Teilzeit weiterhin bestehen bleiben.
Angesprochen auf die Ergebnisse der jüngst veröffentlichten IQB-Studie sagt Anne Deimel, dass die dort aufgezeigten Leistungsdefizite der Schülerinnen und Schüler vorhersehbar gewesen seien. Das Problem sei, dass aufgrund des Personalmangels bereits in der Kita keine individuelle Förderung der Kinder mehr stattfinden könne. Somit könne der Grundbildungsauftrag nicht erfüllt werden. In den Schulen würden die Lehrkräfte dann mit Herausforderungen konfrontiert, denen sie angesichts der knappen Personalressourcen kaum gewachsen seien: von geringen Deutschkenntnissen, über Inklusion bis hin zu Kindern, in deren Familien Lesen kaum oder gar keine Rolle mehr spielen.
Den Leistungsdruck zu erhöhen, sei in dieser Situation nicht hilfreich. Anne Deimel betont, dass Bildung drei Facetten habe: Wissensvermittlung, Persönlichkeitsentwicklung und Strategien zum Problemlösen und kritischen Denken. Es sei wichtig, so Anne Deimel weiter, dass in der Schule genug Freiräume zum Aufbau von Beziehungen und zur Partizipation der Schüler*innen geschaffen würden. „Das Arbeiten in eigenen Projekten hilft den Kindern, selbstständig zu denken“, erläutert sie. „Wenn wir nur noch den Stoff hineindrücken, fühlen sich die Kinder überhaupt nicht mehr angesprochen.” So funktioniere Lernen nicht.
Wie kann es gelingen, junge Menschen noch für den Lehrerberuf zu gewinnen? Das sei schwierig, räumt Deimel ein. Aber: Sie selbst würde sich immer wieder dafür entscheiden – trotz aller Probleme, betont sie. „Solche Situationen schweißen ein Kollegium auch zusammen“, erklärt die erfahrene Pädagogin. „Als Lehrkraft kann ich die Gesellschaft mitgestalten, weil ich mit der Bildung der Kinder den Grundstein für die Zukunft lege.“ Nina Odenius
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