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Traumatisierte, kaum Deutsch sprechende Schüler, überforderte Lehrer, frustrierte Schulleitungen: Unterrichten im Brennpunkt

DÜSSELDORF. Kein Kita-Besuch, kaum elterliche Unterstützung, mangelnde Sprachkenntnisse – Schulen im sozialen Brennpunkt haben mit extremen Bedingungen zu kämpfen. Wie hart diese konkret sind, zeigt eine aktuelle Umfrage unter betroffenen Schulleitungen aus vier Bundesländern auf. Frustrierend: 70 Prozent meinen, sie könnten die Bildungschancen ihrer Schülerinnen und Schüler verbessern – wenn ihre Schule über mehr Ressourcen verfügen würde.

Unterrichten in schwierigen sozialen Lagen – hier: Berlin-Marzahn – ist extrem herausfordernd. Foto: Shutterstock

Drei von vier befragten Schulleitungen in der Studie  geben an, dass ihre Schülerinnen und Schüler beim Schuleintritt einen hohen Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprachkompetenzen haben. Aber nicht nur dort: “Im Bereich der Fachkompetenzen sowie der sozial-emotionalen Kompetenzen beschreiben ebenfalls knapp drei Viertel der Befragten den Unterstützungsbedarf als eher groß oder sehr groß. Auch im Bereich der körperlich-motorischen Kompetenzen charakterisiert mehr als die Hälfte der Schulleitungen (60 Prozent) den Unterstützungsbedarf als eher groß oder groß.”

Das sind Ergebnisse der Studie „Schule im Brennpunkt 2023“ des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung, die in dieser Woche anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Stiftung veröffentlicht wurde. Darin haben Schulleitungen aus vier Bundesländern die aktuelle Situation und die Herausforderungen an ihren Schulen dargestellt und bewertet.

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So zeigt die Befragung, dass 17,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Schulen im Brennpunkt keine Kindertagesstätte besucht haben (im bundesweiten Durchschnitt betrifft das nur acht Prozent). Allerdings sind die festgestellten Unterschiede enorm: „Neben Schulen, in denen alle Kinder in einer Kindertagesstätte waren, gibt es auch solche, in denen dies bei 95 Prozent der Kinder nicht der Fall war.”

Mehr als jedes vierte Kind hat darüber hinaus bereits traumatische Lebenserfahrungen gemacht. „Die Befragten nehmen an, dass durchschnittlich 27,9 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler bereits eine psychische oder physische Ausnahmesituation (z. B. Fluchterfahrung oder – sexuelle – Gewalt) erlebt haben. Die Spannweite ist hier sehr groß: Während sie bei einigen Schulen bei 2 Prozent liegt, trifft es an anderen Schulen auf bis zu 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler zu.”

Als eher oder völlig zutreffende Beeinträchtigung für das Lernen nennen die Schulleitungen zudem die häufige kognitive Abwesenheit der Schülerinnen und Schüler

Mit 100 Prozent sagen alle befragten Schulleitungen, dass die mangelnde elterliche Unterstützung das schulische Lernen der Kinder und Jugendlichen stark beeinträchtigt. Eine besonders große Barriere für die Zusammenarbeit mit Eltern ist laut der Befragung die Sprache. „Als eher oder völlig zutreffende Beeinträchtigung für das Lernen nennen die Schulleitungen zudem die häufige kognitive Abwesenheit der Schülerinnen und Schüler
(89,8 Prozent), Störung des Unterrichts (73,2 Prozent) sowie Aggressivität unter
Schülerinnen und Schülern (65,9 Prozent). Für etwa ein Drittel der Schulleitungen ist die Aussage eher oder völlig zutreffend, dass Gewalt gegen Sachen (39,9 Prozent), Schwänzen (34,8 Prozent), fehlender Respekt gegenüber den Lehrkräften (29 Prozent) oder ethnische Konflikte (29 Prozent) das Lernen in der Schule erschweren.”

Weiter heißt es in der Studie: „Darüber hinaus wollten wir von den Schulleitungen wissen, wie hoch sie den Anteil an Schülerinnen und Schülern einschätzen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, der jedoch amtlich (noch) nicht festgestellt ist. Dieser Anteil wird im Durchschnitt auf 14,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler geschätzt. An einigen Schulen liegt er laut Schätzungen bei nur einem Prozent, an anderen bei bis zu 65 Prozent der Schülerinnen und Schüler.”

Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, erklärt dazu: „Unsere Studie zeigt, dass sich ungünstige Lernvoraussetzungen häufen und es für Schulen im Brennpunkt daher sehr viel schwieriger ist, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen als für Schulen in anderen Lagen. Darauf muss Politik reagieren und diese Schulen gezielt unterstützen. Denn alle Kinder und Jugendlichen haben ein Grundrecht auf Bildung.“

Die schlechten Lernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülern im Brennpunkt wirken sich auch auf die Passung der Lehrpläne und Lehrwerke aus, die in den Schulen genutzt werden. Mit 80 bzw. 70 Prozent hat die überwältigende Mehrheit der Leitungen der Schulen im Brennpunkt angegeben, dass sich die gängigen Lehrpläne und Lehrwerke nicht für die Kinder und Jugendlichen eignen. Das betrifft sowohl das Schwierigkeitsniveau und den Umfang als auch die inhaltlich-thematische Ausrichtung, die nicht zur Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler passen.

„89,3 Prozent stimmen eher oder völlig zu, dass der Beruf die Gesundheit des Kollegiums belastet

Weitere Probleme an den Schulen im Brennpunkt sind die räumlichen und personellen Ressourcen. Diese bewerten über 70 Prozent der Schulleitungen als schlecht. Dieser Befund geht – auch das zeigt die Befragung – mit hohen Belastungen bei dem Kollegium und den Schulleitungen einher. „89,3 Prozent stimmen eher oder völlig zu, dass der Beruf die Gesundheit des Kollegiums belastet. Ein etwas kleinerer Anteil der Schulleitungen (82,1 Prozent) ist eher oder völlig der Meinung, dass die Lehrkräfte ihrer Schule wegen der beruflichen Belastung oft müde und abgeschlagen sind. 68,6 Prozent teilen die Ansicht eher oder völlig, dass das Kollegium mit der zeitlichen Belastung des Berufs nicht fertig wird.”

Was die Situation nicht leichter macht, ist ein vergleichsweise hoher Anteil an Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern unter den Lehrkräften. „Ein näherer Blick auf die Zusammensetzung der Lehrkräftekollegien der Befragung verdeutlicht, dass durchschnittlich 17,8 Prozent der Personen, die als Lehrkräfte arbeiten, keine Lehramtsqualifikation haben (d. h. Quer- und Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger oder Vertretungslehrkräfte sind). Dabei lassen sich sowohl Schulen identifizieren, an denen alle Lehrkräfte eine Lehramtsqualifikation besitzen, als auch Schulen, an denen über die Hälfte des Kollegiums (52,2 Prozent) keine grundständig ausgebildeten Lehrkräfte sind.”

Trotz der besonderen Anforderungen hat mehr als die Hälfte der Schulleitungen angegeben, auf jeden Fall an ihrer Schule bleiben zu wollen. Weiterhin sind mehr als 70 Prozent davon überzeugt, dass sie die Bildungschancen der benachteiligten Schülerinnen und Schüler verbessern können.

Warnke betont: „Mit Blick auf das Startchancen-Programm, das Schulen in herausfordernden Lagen unterstützen soll, haben sich bisher vor allem Bund und Länder ausgetauscht. Entscheidend ist aber auch mit den Schulen in Brennpunkten ins Gespräch zu kommen. Dafür bieten diese beiden Publikationen eine gute Grundlage und viele Anknüpfungspunkte.“ Hintergrund: Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, etwa jede zehnte Schule in Deutschland mit einem «Startchancen»-Programm zu fördern, um «Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern» zu ermöglichen. Über das Programm ist nun ein Streit zwischen Bund und Ländern ausgebrochen (News4teachers berichtete).

Die Befragung „Schule im Brennpunkt 2023“ des impaktlab der Wübben Stiftung Bildung wurde zum ersten Mal durchgeführt. Ziel ist es, die Situation an Schulen im Brennpunkt systematisch sowie länder- und schulstufenübergreifend zu erfassen. In die Auswertung wurden nur Schulen aufgenommen, in denen entweder mindestens 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine andere Herkunftssprache als Deutsch haben oder mindestens 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Familien kommen, die Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch erhalten (z. B. Arbeitslosengeld).

Die Ergebnisse basieren auf den Einschätzungen von insgesamt 149 Schulleitungen aus Grundschulen und weiterführenden Schulen in vier deutschen Bundesländern. In der Befragung wurden folgende Bereiche in den Blick genommen: Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, Lernen in Schule und Unterricht, schulische Ressourcen, Personal an der Schule, Eltern als Bildungs- und Erziehungspartner sowie Leitung an der Schule. Darüber hinaus sind Fragen zu der größten Herausforderung sowie positivsten Entwicklung der letzten Jahre an den Schulen eingeflossen.

Hier geht es zur vollständigen Studie.

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