BERLIN. Mark Rackles, ehemaliger Staatssekretär für Bildung und Vizechef der SPD in Berlin, hat den Kultusministerinnen und Kultusministern vorgeworfen, „kein großes Interesse“ an einer Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit von Lehrkräften zu haben. Denn dabei würde deutlich, wie viel Lehrerinnen und Lehrer tatsächlich arbeiten würden – nämlich wesentlich mehr, als sie tariflich müssten. Rackles muss es wissen: Er hat unlängst im Auftrag der Telekom Stiftung ein Gutachten über das gängige Arbeitszeitmodell in Schulen verfasst. „Lehrer sind alles andere als faule Säcke“, sagt er.
„Grundlage der Arbeitsorganisation an Schulen ist ein uraltes System aus dem 19. Jahrhundert, das nie an die Erfordernisse der modernen Pädagogik angepasst wurde“, so erklärt Rackles in einem Interview mit dem Sender ntv. „Wirklich festgeschrieben ist in diesem System nur die Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche, die eine Lehrkraft zu erteilen hat, an Gymnasien beispielsweise, je nach Bundesland, 23 bis 27 Unterrichtsstunden, an Grundschulen 27 bis 28,5 Unterrichtsstunden. Alles andere bleibt unbestimmt und hängt davon ab, wie eine Lehrkraft die Arbeit wahrnimmt.“
In der Praxis bedeute dies, dass Lehrerinnen und Lehrer in den Unterrichtswochen im Schnitt auf eine Arbeitszeit von 47 Stunden pro Woche kämen – plus „drei bis vier Überstunden, sodass sie rund 50 Stunden pro Woche arbeiten“.
Angesichts dieser Situation sei es falsch, die Unterrichtszeit zu verlängern – wie es in einigen Bundesländern vorgesehen ist oder bereits vollzogen wurde. „Ein Arbeitgeber sollte die Arbeitszeit seiner Beschäftigten kennen, gerade dann, wenn diese länger arbeiten sollen. Im bestehenden System ist die tatsächliche Arbeitszeit der Lehrkräfte aber völlig unklar“, sagt Rackles. „Deshalb ist es so unfair, ihnen eine Unterrichtsstunde Mehrarbeit zu geben. Dazu kommen ja noch die Vor- und Nachbereitungszeiten. Das ist hoch unseriös und wird eher dazu führen, dass noch mehr Lehrkräfte in die Teilzeit gehen oder den Job wechseln. Und mehr Lehrkräfte wird man so auch nicht gewinnen.“ Grundsätzlich gelte: „Alles, was unter Zwang läuft, ist im bestehenden System ein Rohrkrepierer und ein Schuss ins Knie.“
Im internationalen Vergleich hätten Lehrkräfte in Deutschland für hohe Arbeitszeiten, aber geringe Unterrichtszeiten. Österreich beispielsweise verzeichne im Schuldienst eine ähnlich hohe Jahresarbeitszeit, eine Lehrkraft dort stünde aber 100 Stunden mehr vor der Klasse. „Das heißt: Unser Arbeitszeitmodell fördert nicht nur Überlastung, es ist auch ineffizient.“ Die größten Belastungsfaktoren steckten im bürokratischen Aufwand, im Erfassen von Daten. Rackles: „Warum muss eine teuer bezahlte Lehrkraft so etwas tun, warum muss sie Aufsichten machen? In anderen Ländern machen das Assistenzlehrkräfte oder Studierende.“
„Wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfingen, ihre tatsächliche Arbeitszeit aufzuschreiben, dann würde deutlich, dass wir 20.000 bis 25.000, vielleicht bis zu 30.000 zusätzliche Lehrkräfte brauchen“
Das Bundesarbeitsgericht hatte im September 2022 entschieden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ihre gesamte Arbeitszeit aufzeichnen müssen. Passiert ist seitdem für den Schuldienst – nichts. Außer: „Die Kultusministerkonferenz hat brav eine Arbeitsgruppe gebildet, da wird es im Laufe des Jahres vermutlich eine Stellungnahme geben. Aber gleichzeitig haben die Bildungsminister kein großes Interesse, das Thema aufzugreifen, denn sie profitieren ja von diesen unbestimmten Arbeitszeiten“, sagt Rackles. „Wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfingen, ihre tatsächliche Arbeitszeit aufzuschreiben, dann würde deutlich, dass wir 20.000 bis 25.000, vielleicht bis zu 30.000 zusätzliche Lehrkräfte brauchen. Das kommt noch drauf auf den Mangel, den wir sowieso haben.“
In seinem Gutachten für die Telekom Stiftung hatte Rackles eine Alternative zum gängigen Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte skizziert. Das sieht die „Jahresarbeitszeit als Bemessungsgrundlage“ vor – eine vollständige Erfassung aller Arbeitsstunden und nicht allein der auf den Unterricht bezogenen Pflichtstunden. Die Zuweisung von Arbeitszeit erfolgt danach angepasst an die Arbeitslast der jeweiligen Fächer und Schulstufen, nicht jedoch, wie bisher, nach Schularten. Es sollen Tätigkeitscluster gebildet und diese mit zeitlichen Richtwerten beziffert werden. Diese könnten laut Gutachten sein: Unterricht als Kerngröße mit einem Anteil an der Gesamtarbeitszeit von 40 Prozent, unterrichtsnahe Tätigkeiten (Anteil: 35 Prozent), professionelle Kompetenz (Anteil: acht Prozent) sowie allgemeine Aufgaben (Anteil: 17 Prozent).
Für eine Umstellung des Arbeitszeitmodells empfiehlt Mark Rackles Pilotversuche, die im bestehenden System relativ unkompliziert realisierbar seien. Wichtig sei dabei neben Transparenz die Partizipation von Schulleitungen, Lehrkräften und Personalräten, um Akzeptanz für das neue Modell zu erreichen. Eine Reform sei unumgänglich, meint Rackles, der aus der Politik ausgestiegen ist und mittlerweile als Systemberater arbeitet: „Aus meiner Sicht muss das passieren, wenn dieser Job wieder interessant für Anfänger werden soll und wenn man Leute motivieren will, aus der Teilzeit in Vollzeit zu gehen.“ News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Interview auf ntv.
