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“Lehrer für einen Tag”: Wie Schülerinnen und Schüler für den Schuldienst gewonnen werden sollen – ein Modellprojekt

HAMM. Tausende Lehrer fehlen, die Lücke wächst, Nachwuchs ist knapp. In den Bundesländern bleibt nichts unversucht zur Personalgewinnung. Drei Universitäten in Nordrhein-Westfalen haben ein ungewöhnliches Projekt gestartet. Interessant, sagen auch Deutscher Lehrerverband und Bildungsforscher.

Lust auf den Lehrerberuf? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die neue Lehrerin geht durch die Reihen der 11. Klasse, verteilt Arbeitsblätter, für den Deutsch-Grundkurs steht bald eine Klausur an. Ungewöhnlich: Die «Lehrkraft» Gina Marie Wiethege ist erst 17 Jahre alt und drückt selbst noch die Schulbank. Sie wechselt die Rolle, für einen Tag. Im Rahmen eines Programms, das junge Menschen für den Lehrerberuf gewinnen will, für den deutschlandweit händeringend Nachwuchs gesucht wird. Ginas Einsatz in einer Gesamtschule in Hamm am Rande des Ruhrgebiets ist ein kleiner Job-Test, ein Blick auch hinter die Kulissen. Sie liebäugelt mit einem Lehramtsstudium, hat aber viele Fragen und möchte mal die Perspektive wechseln.

Tausende Lehrerinnen und Lehrer fehlen in Deutschland, die Lücke wird vielen Prognosen zufolge größer. Ziel des neuen Formats der Universitäten Bochum, Duisburg-Essen und Dortmund zunächst noch bis zum 23. September ist es, dem Personalmangel mit entgegenzuwirken. Der Deutsche Lehrerverband und Bildungsforscher begrüßen die Idee.

Deutschlehrer Stefan Schorning (35), der Gina betreut, sieht darin eine Chance: «Es ist ein Pilotversuch. Wir haben Lehrermangel und es wäre total super, wenn wir mehr Nachwuchs bekämen.» Wichtig aus seiner Sicht: «Wir bieten einen ungeschönten Blick. Es gibt keine Showstunden. Wir wollen vermitteln, was wir außer Unterricht sonst noch machen.» Also Reinschnuppern in Berufsbereiche, mit denen Schülerinnen und Schüler normalerweise nicht in Berührung kommen.

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«Ich hatte keine Probleme, vor der Klasse zu stehen, damit bin ich gut klargekommen»

Ginas Plan umfasst Deutsch-Unterricht in Oberstufenkursen oder auch Gesellschaftslehre in einer 7. Klasse. «Wie geht das mit dem Zitieren?» wird sie von einer Schülerin gefragt. Gina kann helfen, dank Deutsch-Leistungskurs in ihrem Berufskolleg daheim. Berührungsängste hat sie nicht. «Ich hatte keine Probleme, vor der Klasse zu stehen, damit bin ich gut klargekommen.» Eine wichtige Erfahrung.

Bis zum Jahr 2030 werden bundesweit zwischen 31 000 und 81 000 Lehrkräfte fehlen, hatte ein Bildungsbündnis – darunter Bertelsmann Stiftung und Centrum für Hochschulentwicklung – kürzlich prognostiziert. In NRW waren nach jüngsten Zahlen vom Juni rund 6700 Stellen nicht besetzt. Zudem brechen viele Studienanfänger das Lehramtsstudium ab.

Bei dem Pilotversuch machen zunächst gut 140 Oberstufenschüler mit. «Die Teilnehmenden sollen ein realistisches Bild von der Aufgabenvielfalt des Berufs erhalten», erläutert Mira Stepec von der Ruhr-Uni Bochum. Alle Schulformen sind vertreten. Es hatten sich mehr Lehrkräfte gemeldet, nicht alle konnten berücksichtigt werden. Man hoffe, dass das Format nicht nur im Ruhrgebiet wiederholt werde, sondern die Idee auch breiter in NRW und womöglich anderen Bundesländern Schule machen könnte.

Bildungsforscher Michael Becker-Mrotzek sagt: «Angesichts des demografischen Wandels und der relativ geringen Quote an Lehramtsstudierenden ist eine solche Maßnahme in jedem Fall zu begrüßen.» So könnten sich künftige Studierende «frühzeitig ein Bild vom Lehrerberuf machen oder diesen überhaupt erst in ihre Auswahl einbeziehen.» Zumal auch viele andere Berufsfelder um die Schulabsolventen werben. Es sei sinnvoll, die ersten Erfahrungen mit dem Angebot abzuwarten, bevor man an weitere Schritte denke.

Aus Sicht des Deutschen Lehrerverbands ist ein solcher Einblick «eine gute Idee, um für die vielseitigen und grundsätzlich attraktiven Beruf einer Lehrkraft zu werben.» Natürlich sei in so kurzer Zeit nur ein unvollständiges Bild möglich. Wichtig: Eine intensive Vor- und Nachbereitung sowie eine Begleitung durch eine Lehrkraft, «damit die Schülerinnen und Schüler – noch ohne didaktische und pädagogische Werkzeuge – nicht in eher abschreckende überfordernde Situationen kommen», betont Präsident Stefan Düll. Er mahnt: «Damit Jugendliche den Beruf als Lehrkraft als attraktiv wahrnehmen und sich langfristig wieder mehr für das Lehramtsstudium entscheiden, müssen die Rahmenbedingungen an den Schulen deutlich verbessert werden.»

«Es gibt Schattenseiten, aber vor allem macht die Arbeit sehr viel Spaß»

In Hamm verschweigt Lehrer Stefan Schorning nicht: «Wir sind auch Aktenmenschen. Dokumentiert werden muss eigentlich alles.» Gina nickt. «Das schreckt mich nicht, solange es nicht über alle Maße hinausschießt.» Der 35-Jährige berichtet über Laufbahnberatung für Oberstufenschüler, Schreibtischarbeit aller Art, Organisation von Kurs- und Klassenfahrten, Austausch auch mit externen Beratern, die Rolle der Schulsozialarbeit – und seine Freude an der Arbeit mit den Heranwachsenden. «Man kann sich auch Nischen suchen», in seinem Fall Begabtenförderung oder Beratungsarbeit.

Vieles ist Neuland für Gina. Sie hat Fragen zum Gendern, zur Wahrung der Privatsphäre von Schülern oder zum Zeitmanagement, ab wann man «Reingrätschen muss, wenn Schüler quatschen.» Zum Abschluss des Programms «Austausch Lehramt» wird analysiert, bewertet, die Teilnehmenden sollen ihr Feedback einbringen. Lehrer Schorning findet: «Es gibt Schattenseiten, aber vor allem macht die Arbeit sehr viel Spaß.» Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

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