„Lehrer für einen Tag“: Wie Schülerinnen und Schüler für den Schuldienst gewonnen werden sollen – ein Modellprojekt

19

HAMM. Tausende Lehrer fehlen, die Lücke wächst, Nachwuchs ist knapp. In den Bundesländern bleibt nichts unversucht zur Personalgewinnung. Drei Universitäten in Nordrhein-Westfalen haben ein ungewöhnliches Projekt gestartet. Interessant, sagen auch Deutscher Lehrerverband und Bildungsforscher.

Lust auf den Lehrerberuf? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Die neue Lehrerin geht durch die Reihen der 11. Klasse, verteilt Arbeitsblätter, für den Deutsch-Grundkurs steht bald eine Klausur an. Ungewöhnlich: Die «Lehrkraft» Gina Marie Wiethege ist erst 17 Jahre alt und drückt selbst noch die Schulbank. Sie wechselt die Rolle, für einen Tag. Im Rahmen eines Programms, das junge Menschen für den Lehrerberuf gewinnen will, für den deutschlandweit händeringend Nachwuchs gesucht wird. Ginas Einsatz in einer Gesamtschule in Hamm am Rande des Ruhrgebiets ist ein kleiner Job-Test, ein Blick auch hinter die Kulissen. Sie liebäugelt mit einem Lehramtsstudium, hat aber viele Fragen und möchte mal die Perspektive wechseln.

Tausende Lehrerinnen und Lehrer fehlen in Deutschland, die Lücke wird vielen Prognosen zufolge größer. Ziel des neuen Formats der Universitäten Bochum, Duisburg-Essen und Dortmund zunächst noch bis zum 23. September ist es, dem Personalmangel mit entgegenzuwirken. Der Deutsche Lehrerverband und Bildungsforscher begrüßen die Idee.

Deutschlehrer Stefan Schorning (35), der Gina betreut, sieht darin eine Chance: «Es ist ein Pilotversuch. Wir haben Lehrermangel und es wäre total super, wenn wir mehr Nachwuchs bekämen.» Wichtig aus seiner Sicht: «Wir bieten einen ungeschönten Blick. Es gibt keine Showstunden. Wir wollen vermitteln, was wir außer Unterricht sonst noch machen.» Also Reinschnuppern in Berufsbereiche, mit denen Schülerinnen und Schüler normalerweise nicht in Berührung kommen.

«Ich hatte keine Probleme, vor der Klasse zu stehen, damit bin ich gut klargekommen»

Ginas Plan umfasst Deutsch-Unterricht in Oberstufenkursen oder auch Gesellschaftslehre in einer 7. Klasse. «Wie geht das mit dem Zitieren?» wird sie von einer Schülerin gefragt. Gina kann helfen, dank Deutsch-Leistungskurs in ihrem Berufskolleg daheim. Berührungsängste hat sie nicht. «Ich hatte keine Probleme, vor der Klasse zu stehen, damit bin ich gut klargekommen.» Eine wichtige Erfahrung.

Bis zum Jahr 2030 werden bundesweit zwischen 31 000 und 81 000 Lehrkräfte fehlen, hatte ein Bildungsbündnis – darunter Bertelsmann Stiftung und Centrum für Hochschulentwicklung – kürzlich prognostiziert. In NRW waren nach jüngsten Zahlen vom Juni rund 6700 Stellen nicht besetzt. Zudem brechen viele Studienanfänger das Lehramtsstudium ab.

Bei dem Pilotversuch machen zunächst gut 140 Oberstufenschüler mit. «Die Teilnehmenden sollen ein realistisches Bild von der Aufgabenvielfalt des Berufs erhalten», erläutert Mira Stepec von der Ruhr-Uni Bochum. Alle Schulformen sind vertreten. Es hatten sich mehr Lehrkräfte gemeldet, nicht alle konnten berücksichtigt werden. Man hoffe, dass das Format nicht nur im Ruhrgebiet wiederholt werde, sondern die Idee auch breiter in NRW und womöglich anderen Bundesländern Schule machen könnte.

Bildungsforscher Michael Becker-Mrotzek sagt: «Angesichts des demografischen Wandels und der relativ geringen Quote an Lehramtsstudierenden ist eine solche Maßnahme in jedem Fall zu begrüßen.» So könnten sich künftige Studierende «frühzeitig ein Bild vom Lehrerberuf machen oder diesen überhaupt erst in ihre Auswahl einbeziehen.» Zumal auch viele andere Berufsfelder um die Schulabsolventen werben. Es sei sinnvoll, die ersten Erfahrungen mit dem Angebot abzuwarten, bevor man an weitere Schritte denke.

Aus Sicht des Deutschen Lehrerverbands ist ein solcher Einblick «eine gute Idee, um für die vielseitigen und grundsätzlich attraktiven Beruf einer Lehrkraft zu werben.» Natürlich sei in so kurzer Zeit nur ein unvollständiges Bild möglich. Wichtig: Eine intensive Vor- und Nachbereitung sowie eine Begleitung durch eine Lehrkraft, «damit die Schülerinnen und Schüler – noch ohne didaktische und pädagogische Werkzeuge – nicht in eher abschreckende überfordernde Situationen kommen», betont Präsident Stefan Düll. Er mahnt: «Damit Jugendliche den Beruf als Lehrkraft als attraktiv wahrnehmen und sich langfristig wieder mehr für das Lehramtsstudium entscheiden, müssen die Rahmenbedingungen an den Schulen deutlich verbessert werden.»

«Es gibt Schattenseiten, aber vor allem macht die Arbeit sehr viel Spaß»

In Hamm verschweigt Lehrer Stefan Schorning nicht: «Wir sind auch Aktenmenschen. Dokumentiert werden muss eigentlich alles.» Gina nickt. «Das schreckt mich nicht, solange es nicht über alle Maße hinausschießt.» Der 35-Jährige berichtet über Laufbahnberatung für Oberstufenschüler, Schreibtischarbeit aller Art, Organisation von Kurs- und Klassenfahrten, Austausch auch mit externen Beratern, die Rolle der Schulsozialarbeit – und seine Freude an der Arbeit mit den Heranwachsenden. «Man kann sich auch Nischen suchen», in seinem Fall Begabtenförderung oder Beratungsarbeit.

Vieles ist Neuland für Gina. Sie hat Fragen zum Gendern, zur Wahrung der Privatsphäre von Schülern oder zum Zeitmanagement, ab wann man «Reingrätschen muss, wenn Schüler quatschen.» Zum Abschluss des Programms «Austausch Lehramt» wird analysiert, bewertet, die Teilnehmenden sollen ihr Feedback einbringen. Lehrer Schorning findet: «Es gibt Schattenseiten, aber vor allem macht die Arbeit sehr viel Spaß.» Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Keinen Bock auf Arbeit? „Diese Lehrer-Werbekampagne ist gründlich missglückt“

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

19 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
PaPo
7 Monate zuvor

„Flieht, ihr Narren!“
~Gandalf

Nicht schnuppern lassen, die Rahmenbedingungen massiv(!) verbessern.
Alles andere ist sinnlos… obwohl, vielleicht hilft ja versprechen, verschleiern, belügen.

Mondmatt
7 Monate zuvor
Antwortet  PaPo

Scheiße wird auch nicht dadurch besser, dass man sie im Feinkostladen anbietet.

Tabea
7 Monate zuvor

An der Attraktivität arbeiten, dann kommen auch welche.
Bieten Sie die 32 Std Woche (4 Tage an)

Ich_bin_neu_hier
7 Monate zuvor

Mir ist klar, dass ein „Lehrer für einen Tag“ Betreuung und Begleitung benötigt, auf der anderen Seite ergibt sich die willkommene Möglichkeit, ein realistisches Bild des Berufs zu vermitteln/vorzuführen und über Stammtischparolen aus allen möglichen Ecken hinauszukommen: mir scheint das eine bedenkenswerte Idee zu sein, die am besten weiter ausprobiert werden sollte – viel besser als gewisse allseits bekannte völlig verunglückte Werbekampagnen…

Rainer Zufall
7 Monate zuvor

Bemerkenswert! Wird sich dieses Konzept „Praktikum“ durchsetzen? Wir bleiben gespannt

Fakten sind Hate
7 Monate zuvor

Schon lustig, wenn hier bei n4t regelmäßig von Schulen berichtet werden, die ich persönlich kenne und mit den dortigen Schulleitungen im regelmäßigen Kontakt stehe.

Ich umreiße das Problem dieser Pilotprojekte einmal:
Die drei Hammer Gesamtschulen (allesamt Standorttyp 3) sowie die hiesigen Gymnasien ( Sozialindex 1-2 und nur eine 3) haben glücklicherweise eine gute finanzielle Ausstattung vom Schulträger erhalten. Dies lockt vor allen Dingen motivierte und notentechnisch leistungsstarke junge Kollegen an. Die meisten Stellen sind nach kurzer Zeit besetzt, was für neue Bewerber bedeutet, dass sie sich auf andere Stellen bewerben müssen. Diese Stellen finden man z.B an den Gesamtschulen in Herne (Sozialindex 3 und 5), was erstmal nicht schlimm ist. Jedoch: Herne ist im Gegensatz zu Hamm pleite. Während die Hammerschulen u.a. mit digitalen Tafeln (Tablets im Fernseherformat) ausgestattet sind, müssen die Herner Gesamtschulen sich mit defekten Beamern herumärgern.

Kurzum: Der Sina wird eine heile Schule gezeigt, um sie ins Schulsystem zu locken. Am Ende in 10 Jahren wird sie aber in Herne landen. Ganz einfach, weil in 10 Jahre der Lehreraustausch vollendet sein wird und die besseren Schulen zuerst dicht sein werden.

Sozialindex (unten im Downloadbereich) :
https://www.schulministerium.nrw/sozialindex

Hans Malz
7 Monate zuvor
Antwortet  Fakten sind Hate

So was in Art habe ich mir schon gedacht. Die sollen mal ruhig zu mir an den Standortyp 5 kommen, da zeige ich denen schon, wie der Job wirklich ist.

Alter Pauker
7 Monate zuvor

Tja, ein Tag Lehrer sein. Toll!
Spätestens nach 3 Wochen Einführungspraktikum scheint der Alltag durch. Dann ist’s vorbei mit dem Zauber der Eintagsfliege! Wer Lehrer gewinnen will, muss dafür sorgen, dass der Alltag möglichst lange verborgen bleibt! Sonst wars das mit der Berufswahl!

Carsten
7 Monate zuvor

„in den Bundesländern bleibt nichts unversucht“ – Unsinn – das wichtigste bleibt unversucht – die Verbesserung der Arbeitsbedingungen

Konfutse
7 Monate zuvor

Anderer Vorschlag @Kultusbehörden und euren Politkommissaren:
Hilfreich wäre, dass ihr mal einen Perspektivwechsel vollzieht und einen Tag Lehrer an einer Brennpunktschule spielt. Vielleicht wird euch dann klar, was wir da unten wirklich brauchen (und was ihr über Jahre verbockt habt).

Canishine
7 Monate zuvor

«Ich hatte keine Probleme, vor der Klasse zu stehen, damit bin ich gut klargekommen.»
Mit dem vor der Klasse stehen komme ich auch ganz gut klar, mit dem, was davor, dazwischen und danach kommt, nicht immer …

Peace
7 Monate zuvor

Wenn die Arbeitsbedingungen nicht verbessert werden, wird die Gesellschaft einen hohen Preis zahlen. Schule wird verkommen zur reinen Aufbewahrungsanstalt. Bildungsniveau, kein Kommentar. Wir werden ja jetzt schon von Ländern überholt, von denen manche gar nicht wissen, wo die sind. Und das Ganze findet noch in maroden Gebäuden statt. Die jetzige Generation ergreift doch sofort die Flucht. Sie haben andere Voraussetzungen von Arbeit.

Peace
7 Monate zuvor
Antwortet  Peace

*Vorstellungen

Mein_Senf
7 Monate zuvor

In Ethik oder Deutsch lasse ich auch in einigen Klassen (Sozialindex 3-4) Schüler mal das Lehrerdasein ausprobieren, allerdings nur für 1 Stunde. Dadurch merken einige, dass es gar nicht so einfach ist, die Aufmerksamkeit zu bekommen und zu halten. Das wirkt sich immer wieder auf deren eigenes Verhalten im Unterricht aus.

Andre Hoger
7 Monate zuvor
Antwortet  Mein_Senf

Gute Idee!

Finagle
7 Monate zuvor

so tragfähig wie „eine Romanze für einen Sommer“…

Leseratte
7 Monate zuvor

Wenn es nach den Linken geht:

https://www.welt.de/politik/deutschland/article247524104/Die-Linke-will-Zensuren-und-Hausaufgaben-abschaffen.html

Ob sich unter solchen Bedingungen diesen Job noch jemand antun würde… die Ideen werden immer irrer. Da nützt auch „Schnuppern“ nix… 😉

Pit2020
7 Monate zuvor

@Nelle

Work-life-balance, next generation:

– 1 Arbeitstag pro Woche
– E-Bike wegen Home-Office. 😉

Dagmar Schäfer
7 Monate zuvor

Grundschulklassen mit einem Lehrkräfteteam auszustatten ist die Lösung!
Endlich ein Personalkonzept für 10 Jahreaufstellen, Werbung machen und Studienplätze erhöhen!
Teamteaching in die Ausbildung integrieren.
30 Erstklässler brauchen einfach zwei Lehrkräfte….
Gewinner: Kinder, Familien, Chancengerechtigkeit, Inklusion, Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie.
Volksantrag für Grundschulkinder GUTE Schule JETZT BW

wwww.laestigbleiben.de

Baden-WürttembergerInnen, bitte beteiligen! Formblatt ausdrucken und gerne unbeglaubigt einsenden. Ein Volksantrag richtet sich an den Landtag (BW) und braucht 39 000 handschriftliche Unterschriften.