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Antisemitismus unter jungen Muslimen in Deutschland: “Viele Lehrkräfte fühlen sich mit dem Problem alleingelassen”

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BERLIN. Der Terror gegen Israel – und eine Jubelfeier dazu auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln – richten den Fokus auch auf die Lage der Jüdinnen und Juden in Deutschland. Tatsächlich ist Antisemitismus hierzulande weit verbreitet, auch an Schulen, nicht selten unter muslimischen Jugendlichen. Lehrerinnen und Lehrer sind häufig mit dem Phänomen konfrontiert, fühlen sich aber von der Politik alleingelassen. Durchaus zu Recht. Denn mehr als ein Papier, das die Bundesländer zu nichts verpflichtet, hat die KMK bislang nicht zum Thema beigesteuert.

Zur Zerstörung des Staates Israel aufgerufen: Pro-Palästina-Demonstration in Berlin im Mai 2021. Foto: Shutterstock / Timeckert

Der Angriff auf Israel werde große Teile der Schülerschaft beschäftigen, schrieb Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) am Montag in einer Mail an die Schulleitungen. „Dabei ist zu befürchten, dass manifest oder latent israelbezogener Antisemitismus bei einigen Schülerinnen und Schülern eine Rolle spielt“, so die Senatorin und amtierende Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK). „Es ist empfehlenswert, mit den Schülerinnen und Schülern das Gespräch über die Ereignisse zu suchen und ihnen bei der Einordnung zu helfen.“ Wichtig sei, über ihre Sicht auf die Dinge zu sprechen und herauszustellen, dass Gewalt keine Konflikte löse, sondern sie noch verschlimmere.

Eine junge Lehrerin für Politik und Geschichte, so berichtet aktuell die „Bild“-Zeitung, war als erste Rednerin bei der Pro-Israel-Demo am Sonntag vor dem Brandenburger Tor aufgetreten. Ihre Erfahrung: Dass Schülerinnen und Schüler beim Thema Nahost-Konflikt einseitig die Position Palästinas einnähmen und gegen Juden hetzten, gehöre zur Realität in Berliner Schulen. Für sie kein Wunder, denn: „Viele Lehrer sind total überfordert mit solchen Situationen, die immer öfter vorkommen.“ Mit Blick auf das Wochenende sagte sie: „Deswegen war es leider keine Überraschung, dass Menschen ungestört an der Sonnenallee Süßigkeiten verteilen, um den Mord an Juden zu feiern.“ Wichtig sei, die Kolleginnen und Kollegen auf den Umgang mit Antisemitismus vorzubereiten, sie entsprechend fortzubilden.

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Der deutsch-israelische Psychologe und Publizist Ahmad Mansour hatte bereits nach anti-israelischen Demonstrationen in Berlin im vergangenen Jahr bessere Bildungskonzepte gegen Judenfeindlichkeit insbesondere unter arabischstämmigen Jugendlichen gefordert. „Keiner wird als Antisemit geboren“, sagte Mansour seinerzeit. „Diese Jugendlichen sind erreichbar.“ Das hat er demnach bei seiner Sozialarbeit immer wieder gelernt: Man erreiche nicht alle, aber viele. Mansour, der als Palästinenser in Israel aufwuchs, ist Islamismus-Experte und widmet sich in Projekten dem Kampf gegen Antisemitismus.

„Verschwörungstheorien über die ‚Herrschaft der Juden‘  sind unter muslimischen Jugendlichen sehr verbreitet“

Mansour macht in der Mitte der Gesellschaft eine Art von Ohnmacht beim Umgang mit dem Thema Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen aus: Man wolle nicht rassistisch sein, man wolle keine Rechtsradikalen bestätigen. Er hält es demnach für wichtig, sachlich darüber zu reden, und noch wichtiger, Konzepte zu liefern. Nach Mansours Beobachtung wird an den Schulen der Holocaust und der Nationalsozialismus thematisiert, aber zu wenig der israelbezogene Antisemitismus. Lehrerinnen und Lehrer müssten befähigt werden, darüber zu reden. Auch beim Thema Verschwörungstheorien und Querdenker sieht Mansour bei den Pädagogen noch Nachholbedarf, ebenso bei Social Media.

Es wird laut Mansour immer wieder gesagt, dass Antisemitismus in Deutschland nichts zu suchen habe, aber das Thema sei da – auch in den Schulen. „‘Jude‘ ist unter muslimischen Jugendlichen ein Schimpfwort geworden. Verschwörungstheorien über die ‚Herrschaft der Juden‘ oder ihre aktive Rollen bei der Finanzkrise oder bei den Anschlägen am elften September und die Behauptung, die Juden steuerten die USA und ihre Politik, sind unter muslimischen Jugendlichen sehr verbreitet. Auch Stereotype wie ‚Juden sind dreckig, betrügerisch, manipulativ und geldgierig‘ sind nicht selten und werden zumeist durch die Familie, arabische Medien (besonders der Sender Al-Aqsa, der von der Terrororganisation Hamas betrieben wird, sowie der libanesische Hisbollah Sender El-Manar) und auch Moscheen vermittelt und verstärken sich dann in den Peer-Groups. Die pädagogischen Konzepte in den Schulen haben auf diese spezifische Problematik kaum Antworten. Es ist ein pädagogisches Umdenken notwendig, um diese antisemitischen Tendenzen wirkungsvoll zu bekämpfen“, so schrieb Mansour bereits 2012 in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).

Mittlerweile komme viel Propaganda über die Sozialen Medien aus dem Nahen Osten nach Deutschland, erklärt er jetzt – hoch emotionalisiert zum Beispiel über Instagram. „Die Jugendlichen konsumieren das, und dann gehen sie auf die Straße mit einem ganz klaren Anspruch auf die Wahrheit, was da unten passiert.“

„Wir haben auch das Problem, dass im Unterricht Antisemitismus viel zu wenig thematisiert wird und oft von Lehrkräften unwiderlegt bleibt, wenn er von Schülern geäußert wird“

Mansour in seinem bpb-Beitrag: „Viel zu lang hat die Pädagogik den muslimischen Antisemitismus ignoriert. Es gibt kaum wissenschaftliche Erkenntnisse, aus denen sie notwendige Schlüsse ziehen und Konzepte entwickeln könnte. Die an deutschen Schulen vorhandenen Unterrichtseinheiten in Geschichte oder Gesellschaftskunde sind für die Bekämpfung von Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen wirkungslos. Die Bearbeitung von Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg ist wichtig und unverzichtbar, reicht aber zur Sensibilisierung muslimischer Jugendlicher nicht aus. Der Geschichtsunterricht ist auf Schüler/innen ohne Migrationshintergrund angelegt und erreicht muslimische Jugendliche kaum. Ihnen fehlen der Bezug und eine emotionale Verbindung zur deutschen Geschichte – und damit auch das Interesse.“

„Antisemitismus ist an den Schulen nach wie vor weit verbreitet“, befand auch der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, vergangenen Monat gegenüber dem ZDF, „aber wir haben auch das Problem, dass im Schulunterricht Antisemitismus viel zu wenig thematisiert wird und oft von Lehrkräften unwiderlegt bleibt, wenn er von Schülern geäußert wird“.

Das beobachten dem Bericht zufolge auch die Ehrenamtlichen des Projekts „meet a jew“, das persönliche Begegnungen dem Antisemitismus entgegensetzen möchte. Dort heißt es: „Das Antisemitismusproblem ist ein Bildungsproblem.“ Im Grunde müsste man das in die Ausbildung von Lehrkräften integrieren, damit Lehrkräfte wissen, wie sie auf Antisemitismus reagieren sollen und was Antisemitismus überhaupt ist. Denn dieser habe viele Gesichter, könne rechts motiviert sein, sich als Kritik an Israel tarnen, Teil von Verschwörungsideologien sein oder schlicht Provokation. Bisher liege es am Engagement jeder Lehrkraft und der jeweiligen Schule, ob Weiterbildungen zu dem Thema belegt werden und wie auf antisemitische Vorfälle reagiert wird, was zu einem hohen Dunkelfeld führe. Tatsächlich existiert bislang keine bundesweit einheitliche Meldepflicht.

KMK-Präsidentin Günther-Wünsch erklärt dazu laut ZDF-Bericht: „Es braucht eine Qualifizierung des Lehrpersonals, eine Sensibilisierung, ein Bewusstsein bei den pädagogischen Mitarbeitern für das Thema und wir brauchen ein klares Verfahren, wie wir Vorfälle von Antisemitismus an den Schulen melden.“

Schule selbst kann sehr viel im Kampf gegen Antisemitismus leisten“

2021 noch hatte die KMK eine gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule verabschiedet. Zuvor hatte die GEW einen wachsenden Antisemitismus unter Schülerinnen und Schülern in Deutschland beklagt. „Der Antisemitismus an Schulen hat zugenommen. Er war zwar nie verschwunden, aber die Themen Holocaust und jüdisches Leben in Deutschland sind für die Jugend nicht mehr so präsent“, sagte GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann (News4teachers berichtete). Hinzu kämen, so Hoffmann, ethnische und religiöse Konflikte, die die Schulen überforderten. Sie forderte ein „behördliches, aber unbürokratisches und schnelles Hilfsangebot für die Bekämpfung von Antisemitismus an Schulen“. Aktuell würden sich viele Lehrkräfte mit dem Problem des Antisemitismus alleingelassen fühlen.

„Schülerinnen und Schüler erleben Antisemitismus durch explizite Äußerungen, Beleidigungen, durch Stereotypisierungen, durch Ausgrenzungen, durch Exotisierung, sowohl von Lehrer- als auch von Schülerseite. Sie erleben ihn verbal oder physisch. Sie erleben ihn im Unterricht, etwa in Bezug auf Israel. Sie sind allen Arten des Antisemitismus ausgesetzt, in allen Teilen der Gesellschaft“, so erklärte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, im vergangenen Dezember in einem News4teachers-Interview.

Er betonte:Schule selbst kann sehr viel im Kampf gegen Antisemitismus leisten. Es geht dabei nicht nur um Antisemitismus als Unterrichtsgegenstand, sondern letztlich auch um Schulkultur. Will ich eine Schule leiten oder mein Kind in eine Schule schicken, an der Kinder diskriminiert werden? Eine Schule, an der Kinder in Angst lernen müssen und an der kein respektvolles Miteinander stattfindet? Schule vermittelt auch Werte, zu denen der Kampf gegen Antisemitismus ebenfalls gehören sollte, z. B. durch Einübung von Zivilcourage.“

In dem KMK.-Papier nun werden Unterschiede zwischen politischem, sozialem, religiösem und rassistischem Antisemitismus erklärt. Empfohlen wird auch, dass neben der zwingend nötigen Thematisierung des Holocaust im Geschichtsunterricht «das Judentum im Unterricht nicht auf die Themen der Verfolgung und Schoah sowie die Opfer-Perspektive reduziert wird». Wörtlich heißt es dazu: «In der schulischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus, insbesondere in der Prävention, kommt der Vermittlung von Wissen eine entscheidende Bedeutung zu.“ Konkrete Schritte? Fehlanzeige – in dem Papier verpflichten sich die Bundesländer zu nichts. News4teachers / mit Material der dpa

Hier geht es zur vollständigen KMK-Empfehlung.

Zur Unterscheidung von legitimer Kritik an israelischer Politik und israelbezogenem Antisemitismus (sowie pädagogischen Interventionen dazu) hat die Amadeu-Antonio-Stiftung ein Heft herausgegeben. Die Broschüre ist hier gratis herunterladbar.

Bundesbeauftragter: „Antisemitismus an Schulen geht auch von Lehrkräften aus“

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