BERLIN. Die Unternehmensberatung Prognos hat die internen Strukturen der Kultusministerkonferenz (KMK) durchleuchtet – und kommt zu erschreckenden Ergebnissen: Das höchste deutsche Bildungsgremium erscheint in dem unter Verschluss gehaltenen Bericht, der News4teachers vorliegt, als bürokratischer Riesenapparat, der jede Menge Papier ausstößt, aber kaum zu relevanten Entscheidungen kommt. Der Philologenverband drängt auf Reformen.
Den jahrelang heraufziehenden Lehrkräftemangel verschlafen, die Pandemie und ihre Folgen für den Bildungsbetrieb in Deutschland dramatisch unterschätzt, immer weiter sich auseinander entwickelnde Schulstrukturen in Deutschland zugelassen, kaum mehr vergleichbare Abschlüsse hingenommen – und ein Leistungsniveau vertreten, das laut Vergleichsstudien zwischen internationaler Klasse (Sachsen, Bayern) und Entwicklungsland (Nordrhein-Westfalen) oszilliert: Dass die Kultusministerkonferenz, die nach Eigendarstellung „durch Konsens und Kooperation für die Lernenden, Studierenden, Lehrenden und wissenschaftlich Tätigen das erreichbare Höchstmaß an Mobilität sichern und zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland beitragen“ soll, politisch als Witzveranstaltung gelten muss, ist seit Langem unübersehbar.
Nicht so deutlich war bislang hingegen, was hinter der Fassade des KMK-Gebäudes an der Taubenstraße in Berlin passiert. Jetzt bringt ein Gutachten, das die Kultusministerinnen und Kultusminister selbst in Auftrag gegeben haben, Licht ins Dunkel. Was dort sichtbar wird, ist erschütternd. Der Bildungsjournalist Jan-Martin Wiarda würdigt in seinem Blog das unter Verschluss gehaltene Papier der Unternehmensberatung Prognos, das auch News4teachers vorliegt, als Aufzählung von „Unzulänglichkeiten, Unstimmigkeiten und Ineffizienzen der KMK, ihrer Organisation und Entscheidungsabläufe, deren Auswirkungen den deutschen Bildungsföderalismus prägen, aber bislang nie in dieser Form auf den Punkt gebracht wurden“.
Tatsächlich wird in den 19 Schautafeln, die Prognos vorgelegt hat, schnell klar, warum die KMK zwar jede Menge Papier ausstößt, aber kaum zu relevanten Ergebnissen kommt. Die Anzahl der Gremien beträgt 177 – Tendenz weiter steigend. „Über 500 Gremiensitzungen (im Durchschnitt: 11,5 Sitzungen pro Woche) bedeuten einen hohen zeitlichen Aufwand“, so heißt es. Der Schwerpunkt der Beratungstätigkeit liegt allerdings in Arbeitsgruppen ohne Entscheidungsbefugnisse, an denen insgesamt über 1.500 Einzelpersonen teilnehmen (vor allem Referentinnen und Referenten der Kultusministerien). Die wiederum haben kaum einen Einblick in das, was im Sitzungsraum nebenan geschieht. „Mehrfachmitgliedschaften sind wenig ausgeprägt“, so kritisiert Prognos. Abstimmung? Fehlanzeige.
„Tagesordnung entsteht zum großen Teil aus der Auftragsbearbeitung der Gremien (‚bottom-up‘)”
Entscheidungsprozesse dauern entsprechend lang: „von der Initiierung/Beratung bis zum Beschluss/ Entscheidung mindestens neun Monate“, so haben die Unternehmensberater ermittelt. In Stichworten wird den Kultusministerinnen und Kultusministern plus jeweils zugehörigem Tross attestiert, in den Sitzungen Zeit weitgehend sinnlos totzuschlagen. „Tagesordnung entsteht zum großen Teil aus der Auftragsbearbeitung der Gremien (‚bottom-up‘) ▪ Wenig systematische Steuerung oder Priorisierung von Beratungsgegenständen ▪ Relevanz der Tagesordnungen wird kritisiert (‚passt nicht zu den aktuellen Themen‘) ▪ Längerfristige Themen und Schwerpunktsetzungen nur in Ansätzen vorhanden (Präsidentschaftsthema, ‚politische Vorhaben‘).“
Wiarda resümiert: „Ein KMK-Sekretariat, das einer grundlegenden Strukturreform bedarf; ein anarchisch anmutender Gremienwust ohne funktionierenden Informationsaustausch; Entscheidungsabläufe, bei denen die Arbeitsebene der Führung die Richtung vorgibt: Wer sich fragt, warum in der Öffentlichkeit der Eindruck vorherrscht, der Bildungsföderalismus bekomme zu wenig auf die Kette, findet in der Prognos-Evaluation mehr Erklärungen, als ihm lieb ist.“
Wohl nicht zufällig kommt der Philologenverband aktuell mit Umbauvorschlägen um die Ecke. Die Arbeit der KMK sei im Föderalismus und qua Grundgesetz unverzichtbar, eine Professionalisierung ihrer Arbeit jedoch dringend erforderlich, um die Probleme im Bildungsbereich langfristig lösen zu können, so heißt es in einer Pressemitteilung. Konkret fordern die Philologen eine längere Amtszeit für die KMK-Präsidentschaft, aber eine kürzere für den Generalsekretär. Außerdem sei eine Reform der Gremienarbeit der KMK unerlässlich.
Die Philologen-Vorsitzende Prof. Susanne Lin-Klitzing erklärt: „Jährlich wechselnde Schwerpunktsetzungen der KMK-Präsidentschaft, bedingt durch nur einjährige Amtszeiten, erschweren das substanzielle Angehen länderübergreifender Probleme! Dazu gehören die strukturelle Bekämpfung des wiederkehrenden ,Schweinezyklus‘ von regelmäßig zu vielen und zu wenigen Lehrkräften, die gemeinsame Formulierung von Mindeststandards sowohl für quer- und seiteneinsteigende Lehrkräfte als auch für die angemessene Digitalisierung an Schulen. Die Präsidentschaft muss hier nachdrücklich längerfristige Perspektiven und strategische Ziele verfolgen, das kann nicht in einem Jahr Präsidentschaft gewährleistet werden – und sie muss dementsprechend mit eigenen Impulsen durchsetzungskräftiger gegenüber dem Generalsekretariat und der KMK-Verwaltung werden.“
„Wir erwarten beim Evaluationsprozess der KMK eine echte Beteiligung – und nicht eine Feigenblatt-Befragung zum Schluss“
Kritik an der KMK hätten unlängst auch Fachverbände wie der für Spanischlehrkräfte, für Philosophielehrkräfte oder die Gesellschaft Deutscher Chemiker geäußert. „Zahlreiche Vertreter beklagten, dass sie erst am Schluss in die Anhörung der Standards für die Unterrichtsfächer einbezogen würden. Viel besser sei es jedoch, gleich am Anfang entscheidende Impulse geben zu können. Sie bekämen keine Rückmeldung zu ihren eingegebenen Positionen und stellten häufig fest, dass sich von ihren Eingaben dementsprechend nichts oder nur wenig im endgültigen Dokument wiederfände“, so heißt es. Der Deutsche Philologenverband fordert in diesem Zusammenhang: „Wir brauchen wieder mehr verbindlich festgeschriebene Inhalte in den Standards für die Fächer, wenn sie denn überhaupt überprüfbar sein sollen.“
Am Reformwillen der Kultusministerinnen und Kultusminister zweifelt Lin-Klitzing allerdings. Schon der Umgang mit dem Prognos-Gutachten, das derzeit mit den Lehrerverbänden abgestimmt wird, lässt Schlimmes erahnen. „Wir wurden erst befragt, nachdem erste Ergebnisse bereits in der Oktober-KMK vorgestellt wurden – und der Abschlussbericht soll gleichwohl schon Anfang Dezember vorliegen? Wir erwarten beim Evaluationsprozess der KMK eine echte Beteiligung – und nicht eine Feigenblatt-Befragung zum Schluss, so wie wir dies bereits häufig bei der Erstellung von Standards und Curricula erleben mussten“, so erklärt die Philologen-Vorsitzende. News4teachers