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Stigmatisiert der Zeugnis-Eintrag “Rechtschreibung nicht bewertet” Legastheniker? Karlsruhe entscheidet: Nein – wenn…

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KARLSRUHE. In manchen Zeugnissen von Menschen mit Legasthenie steht ein Vermerk darüber, dass ihre Rechtschreibung nicht benotet wurde. Drei Abiturienten aus Bayern finden das ungerecht, sind bisher aber juristisch gescheitert. Nun hat das höchste deutsche Gericht gesprochen.

Karlsruhe will urteilen. Foto: Shutterstock

In Schulzeugnissen darf laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vermerkt werden, wenn Teilleistungen bei der Benotung außer Acht gelassen wurden. Unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit könne dies sogar geboten sein, sagte Gerichtspräsident Stephan Harbarth am Mittwoch in Karlsruhe. Wichtige Einschränkung: Eine solche Regelung dürfe aber nicht nur auf Fälle der Legasthenie – also einer Lese-Rechtschreib-Störung – begrenzt werden.

Drei ehemalige Abiturienten aus Bayern hatten somit Erfolg mit ihren Verfassungsbeschwerden, weil es bei Schülerinnen und Schülern mit anderen Behinderungen keine Zeugnisvermerke gab, obwohl einzelne Teilleistungen nicht bewertet wurden. Daher würden die Betroffenen benachteiligt, die Vermerke seien verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, erläuterte Harbarth (Az. 1 BvR 2577/15 u.a.).

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Menschen mit Behinderung bekommen in Schulprüfungen einen sogenannten Nachteilsausgleich. Das kann zum Beispiel bei Legasthenikerinnen und Legasthenikern bedeuten, dass sie mehr Zeit zum Schreiben bekommen.

Außerdem gibt es in vielen Bundesländern – darunter Bayern – die Option auf «Notenschutz». Auf Antrag lassen Lehrkräfte die Rechtschreibung dann nicht in die Noten mit einfließen. Sie vermerken im Zeugnis, dass sie die Leistung anders bewertet haben. Nach Auffassung der Schulbehörden soll dies die Aussagekraft von Zeugnissen sicherstellen, hatte der Vorsitzende des Ersten Senats, Stephan Harbarth, bei der Verhandlung im Juni in Karlsruhe erläutert.

Die drei bayerischen Schüler, die 2010 Abitur gemacht hatten, sehen sich durch die Zeugnisbemerkung diskriminiert und klagten sich durch die Instanzen. 2015 erteilte ihnen das Bundesverwaltungsgericht eine Absage, weil nach seiner Ansicht kein Anspruch auf Notenschutz besteht ohne dessen Dokumentation im Zeugnis. Dagegen reichten die Kläger Verfassungsbeschwerden beim höchsten deutschen Gericht ein.

«Jeder, der das liest, kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und grottenschlecht für alles ist»

In der Verhandlung bekräftigten die Männer in einer Stellungnahme, dass die Kommentare sie im Berufsleben einschränkten. «Jeder, der das liest, kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und grottenschlecht für alles ist», hieß es in dem Statement, das Anwalt Thomas Schneider verlas. «Das ist, als ob wir einen Stempel bekommen mit der Aufschrift: Vorsicht, willst du mich wirklich einstellen?»

Hingegen argumentierte der damalige bayerische Kultusminister, Michael Piazolo (Freie Wähler), die Vermerke schafften die nötige Transparenz, dass vom allgemeinen Bewertungsstandard abgewichen worden sei. Das sei wichtig, weil gerade Abschlusszeugnisse objektiv vergleichbar sein müssten. Die bayerische Gesetzeslage sei dabei nicht einmalig, mehrere andere Bundesländer handhabten es ähnlich.

Aus Sicht des Anwalts der Kläger kann man Notenausgleich und Notenschutz nicht trennen. Es gebe keinen Unterschied zwischen einer Hilfsmaßnahme wie einem Laptop, der automatisch die Rechtschreibkontrolle übernehme, und der Nichtbewertung der Rechtschreibung. Auch der Senat stellte der bayerischen Staatsregierung viele Fragen zu der Unterscheidung zwischen Nachteilsausgleich, Notenschutz und was wo einsortiert wird.

3,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Bayern hätten eine Lese- und Rechtschreib-Störung, sagte der berichterstattende Verfassungsrichter Josef Christ. Laut Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sind etwa zwölf Prozent der Bevölkerung in Deutschland von mindestens einer der Beeinträchtigungen betroffen. Bei Dyskalkulie oder Rechenstörung sind Rechenfertigkeiten beeinträchtigt, ohne dass das allein durch eine Intelligenzminderung oder unangemessene Beschulung erklärbar wäre.

Der Deutsche Lehrerverband hatte in der Verhandlung erklärt, dass in Schulen alles getan werde, um Diskriminierung zu vermeiden. Schülerinnen und Schüler zeigten in der Regel nicht mit dem Finger auf die Betroffenen oder seien neidisch auf die Hilfsmaßnahmen. News4teachers / mit Materiald der dpa

Wir haben den Beitrag, der ursprünglich das Urteil nur ankündigte, aktualisiert.

Kinder mit Legasthenie und/oder Dyskalkulie: „Schule ist für sie oftmals mit schmerzlichen Niederlagen verbunden“

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