WIESBADEN. Schüler, die bei einem Holocaust-Film klatschen, eine volksverhetzende Tiktok-Challenge, rassistische Gesänge in einer Ausbildungsstätte für Beamte – aktuell laufen zahlreiche Ermittlungen wegen Vorfällen unter jungen Menschen dieser Art. Was sind die Gründe und was muss geschehen? Eine Wissenschaftlerin rät, dort anzusetzen, wo ein Teil des Problems liegt: in den sozialen Medien. Allerdings kann das auch nach hinten losgehen.
Aus verschiedenen Quellen wurde in den vergangenen Wochen über Vorfälle in Hessen berichtet, die in eine ähnliche Richtung gehen. Fall eins: Sechs hessische Berufsschüler sollen bei dem Film «Die Wannseekonferenz» die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus beklatscht haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen mutmaßlicher Volksverhetzung.
Fall zwei: Der Staatsschutz ermittelt gegen zwei Jugendliche wegen des Verdachts auf Volksverhetzung. Die 16-Jährigen sollen an einer Schule im Lahn-Dill-Kreis rassistische Parolen durchs Schulhaus und im Musikunterricht gerufen haben. Das Landeskriminalamt (LKA) sieht einen Zusammenhang mit einem Trend in sozialen Medien, einer sogenannten Tiktok-Challenge.
Fall drei spielt im Studienzentrum der Finanzverwaltung in Rotenburg. Bei einer Feier Ende Januar sollen auf dem Gelände der Bildungseinrichtung rassistische Gesänge angestimmt worden sein. Ermittelt wurde zunächst gegen Unbekannt. Später weitete sich der Fall aus. Gegen einen 33 Jahre alten Justizsekretär-Anwärter wird konkret wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt.
Im vergangenen Jahr hatte es zahlreiche solcher Fälle in ganz Deutschland gegeben, die für Schlagzeilen sorgten. Drei Beispiele:
- Zwei Lehrkräfte verfassten einen Brandbrief, in dem sie die Zustände an einer Grund- und Oberschule im brandenburgischen Burg beschrieben. «Wir wenden uns an die Öffentlichkeit, da wir in unserem Arbeitsalltag als Schulpersonal an einer Schule im Spree-Neiße-Kreis täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert werden und nicht mehr länger den Mund halten wollen», hieß es in dem Schreiben (News4teachers berichtete).
- Kurz darauf wurde der Fall von Oberstufenschülern eines nordrhein-westfälischen Privatgymnasiums bekannt, die im Internet Seiten öffneten, die den Nationalsozialismus verherrlichten. Es sei zu gesungenen Geburtstagsgrüßen für Adolf Hitler gekommen und die Schüler sollen den Hitlergruß gezeigt haben (News4teachers berichtete).
- Nur wenige Tage später zeigten zwei Schüler einer Oberschule im sächsischen Leisnig den Hitlergruß in der Gedenkstätte Auschwitz und teilten ein Foto davon in sozialen Netzwerken (News4teachers berichtete ebenfalls).
«Es ist davon auszugehen, dass die Gesellschaft sensibler geworden ist hinsichtlich rassistischer, antisemitischer oder rechtsextremer Äußerungen und Handlungen», sagt Tina Dürr vom Demokratiezentrum Hessen in Marburg. In Bildungseinrichtungen werde bei Vorfällen öfter interveniert, sie würden nicht mehr so einfach übersehen oder «unter den Tisch gekehrt».
«Allerdings zeigen Einstellungsstudien, dass rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerungen zugenommen haben», so Dürr. Forschende sprächen sogar von einer Trendumkehr: Lange Zeit sei die Zustimmung in der jungen Bevölkerung niedrig gewesen und am höchsten in älteren Generationen. «Das verschiebt sich aktuell und mag ein Grund sein, warum sich solche Fälle in Schulen und Ausbildungseinrichtungen häufen.»
Auch Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank sieht die Vorfälle im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks: «Diese Jugendlichen halten der Gesellschaft den Spiegel vor», sagt Mendel.
«Das wichtigste Instrument im Kampf gegen Rechtsextremismus sind die Lehrkräfte», glaubt Mendel. Sie hätten die Aufgabe, nicht nur ihre Fächer, sondern auch «Werte und Haltung» zu vermitteln. Dafür bräuchten sie den Rückhalt aus der Gesellschaft und so viel fachliche und pädagogische Unterstützung wie möglich. Denn sie führten einen ungleichen Kampf: Auf Plattformen wie Tiktok würden Jugendliche mit Halbwahrheiten, Falschinformationen und Propaganda konfrontiert. «Bei den vielen Stunden, die Jugendliche mit dem Smartphone verbringen, kann man sich nur vorstellen, was das für ihre politische Sozialisation bedeutet.»
Das gilt umso mehr, weil Werte- und Demokratiebildung beim aktuellen Lehrkräftemangel in den Schulen schlicht kaum möglich erscheint, wie die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) Simone Fleischmann im News4teachers-Interview schon vor einem Jahr erklärt hatte. «Denn wenn die Kolleginnen und Kollegen in drei Klassen gleichzeitig unterrichten müssen, die Kinder große Defizite haben, kein Förderlehrer da ist, die Kinder nicht mehr in die Schule gehen wollen, weil es keine AGs oder anderes gibt – und ich male jetzt nicht schwarz, das sind Dinge, die attestiert wurden –, wenn also das ganze Gerüst zusammenbricht, dann können wir nicht noch ein zweites Stockwerk drauf bauen», sagte sie (hier geht es zu dem vollständigen Interview).
Auch das hessische Landeskriminalamt (LKA) warnt: «Gerade rechtsextremistische Gruppierungen nutzen die sozialen Medien, um ihre rassistischen oder fremdenfeindlichen Ideologien mit hoher Reichweite unter jungen Menschen zu verbreiten.» Soziale Medien könnten die Tür zu Gewalt und menschenverachtenden Inhalten bis hin zur Pornografie öffnen, so das LKA.
Mit der Rolle der sozialen Medien hat sich Luise Wolff beschäftigt. Ihre Bachelorarbeit «Bildungsarbeit gegen Antisemitismus auf TikTok» im Fachbereich Soziale Arbeit der University of Applied Sciences Frankfurt wurde Anfang Februar mit dem Johanna-Kirchner-Preis der Arbeiterwohlfahrt ausgezeichnet. «Tiktok wird als Tanz- und Spaßplattform wahrgenommen. Damit wird die Relevanz der Plattform und ihr Einfluss unterschätzt», sagt die 26-Jährige. Jugendliche informierten sich dort zunehmend auch über das Tagesgeschehen. Klassische Medien oder Bildungseinrichtungen seien aber kaum vertreten.
Tiktok funktioniert anders als etwa Instagram oder Facebook, wo Inhalte von Konten angezeigt werden, denen man bewusst folgt. Bei Tiktok hingegen wählt ein Algorithmus aus, was man zu sehen bekommt. Das ist zum einen abhängig vom persönlichen Nutzungsverhalten – aber auch davon, was gerade generell erfolgreich ist.
«Dieser Mechanismus kann begünstigen, dass extremistische oder antisemitische Inhalte sich verbreiten, ohne dass sie von Nutzenden als solche erkannt werden», sagt Luise Wolff. Rechte Influencer verknüpfen zum Beispiel Videoschnipsel von beliebten Songs mit rechten Parolen, die mit dem Lied weitertransportiert werden. Erfolgreich ist dabei vor allem, was emotional wirkt.
Daher reiche es auch nicht aus, Falschinformationen zu korrigieren, meint Wolff. «Tiktok-Nutzende wollen nicht belehrt werden.» Der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus funktioniere «nicht von oben herab, sondern nur auf Augenhöhe». «Wichtig ist, das in Tiktok selbst viel Potenzial steckt, dem entgegenzuwirken. Die Plattform bietet Möglichkeiten, eigene Bildungsformate zu entwickeln und besonders junge Menschen darüber zu erreichen.» Nur: Wer fängt damit an? News4teachers / mit Material der dpa
