BERLIN. Raub, Bedrohung, Körperverletzung – die Schlagzeilen der vergangenen Wochen zeigen, dass Schulen immer wieder zu Tatorten werden. Noch gehören solche krassen Gewaltdelikte zum Glück nicht zum Schulalltag in Deutschland, doch eine Umfrage unter Landeskriminalämtern und Bildungsministerien macht deutlich: Die Zahl der Gewaltdelikte steigt.
Ein Blick in die Hauptstadt: Laut Angaben der Polizei gibt es im Durchschnitt täglich mindestens fünf Polizeieinsätze an Berliner Schulen. Die Zahlen stiegen zuletzt von 750 Einsätzen im Jahr 2021 auf 1.076 im Jahr 2023. Auch die Fälle der sogenannten Rohheitsdelikte ist gestiegen: Waren es 1.133 im Jahr 2021, verzeichnete die Polizei 2022 insgesamt 2.344 solcher Taten. Zudem sei für 2023 eine „erneute deutliche Steigerung der Fallzahlen“ zu verzeichnen, teilt die Polizei mit, auch wenn die endgültigen Zahlen noch nicht vorlägen und in den Jahren 2021 und 2022 die Corona-Pandemie mitberücksichtigt werden müsse.
Ähnliches melden die Bildungsministerien und Schulbehörden unter anderem aus Thüringen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Bremen und Niedersachsen. In Hannover berichtet eine Schule beispielswiese von Problemen mit schulfremden Personen, von Beleidigungen, Prügeleien und Sachbeschädigungen. Das ging so weit, dass Ende des vergangenen Jahres täglich die Polizei vorbeigekommen sei. „Die Fußstreife ist jeden Tag zu unterschiedlichen Zeiten rund um die Schule und auf dem Schulhof gewesen“, sagt die Schulleiterin der betroffenen Gesamtschule. Der Einsatz habe sehr geholfen, da er den Schüler*innen, Lehrkräften und Eltern ein besseres Sicherheitsgefühl vermittelt habe.
In Bremerhaven hatten Jugendliche über eine längere Zeit unbefugt das Schulgelände betreten, Fenster eingeschlagen, Türen beschädigt, Toiletten verstopft sowie Schüler*innen und Lehrkräfte bedroht. „Die Lage im vergangenen Herbst war sehr unruhig“, so die Schulsprecherin. „Ich habe mich unsicher gefühlt, weil man nie wusste, wie schlimm es wird oder was als Nächstes passiert.“ Erst als ein Sicherheitsdienst im November 2023 begann, das Schulgelände zu kontrollieren, beruhigte sich die Lage an der Schule. Zeitweise waren täglich jeweils vier Wachleute auf dem Schulgelände unterwegs, wie ein Sprecher der Stadt berichtet. Nach knapp drei Monaten wurde der Personaleinsatz reduziert.
Besorgniserregender Trend – trotz niedriger Fallzahlen
Beide Fälle passen ins Bild. Neben Vandalismus ist auch Gewalt zunehmend ein Problem an Schulen. „Für das Jahr 2023 ist eine Zunahme der Fälle mit Opfern im Schulkontext im mittleren dreistelligen Bereich festzustellen“, teilt das niedersächsische Landeskriminalamt auf Nachfrage mit. Demnach wurden deutlich mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte Opfer einer Straftat als im Vorjahr. Die Gesamtzahl der Opfer im Schulkontext kletterte von rund 2.630 im Jahr 2022 auf etwa 3.270 im Jahr 2023. Darunter waren rund 1.110 Schüler*innen sowie knapp 150 Lehrende. Welchen Gruppen die anderen Opfer angehörten, wurde nicht genannt. Im Bereich Rohheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit stieg die Zahl seit dem Jahr 2022 um rund 520 Fälle auf 2.680. In diese Kategorie fallen Taten wie Raub, räuberische Erpressung, Bedrohung, gefährliche und schwere Körperverletzung und vorsätzliche einfache Körperverletzung.
Besonders krass sind die Zahlen aus Nordrhein-Westfalen: Vergleicht man in der Statistik des Innenministeriums die Zahlen für die Jahre 2019 und 2022, so ergibt sich ein Anstieg um mehr als die Hälfte. Zugleich ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie an Schulen des Gesundheitswesens nur um etwa ein Prozent angestiegen. Allein 2022 wurden in NRW rund 5.400 Gewaltdelikte aus Schulen gemeldet.
Trotz der gestiegenen Anzahl an Gewalttaten in der Schule kommen Fälle von Mord und Totschlag wie der tödliche Messerangriff auf eine Schülerin nahe Heidelberg in den Statistiken zum Glück nur selten vor. Dort wird ein 18-Jähriger beschuldigt, im Januar an einem Gymnasium auf eine Gleichaltrige eingestochen zu haben (News4teachers berichtete). Gleichwohl nimmt die Unsicherheit an vielen Schulen zu – auch weil anscheinend mehr Waffen als früher mit zur Schule genommen werden.
Verband der Schulleiter: Mehr Waffen an Schulen
Ob Polizist*innen in den einzelnen Einsätzen an Schulen Waffen festgestellt haben, darüber geben die Landesstatistiken kaum Auskunft. In Sachsen seien es 2022 insgesamt 15 Waffen gewesen; darunter 42 Messer, 43 Steine und 19-mal Pyrotechnik. In vielen Fällen seien auch Feuerzeuge eingesetzt worden. In Thüringen wurde laut Landesbildungsministerium im vergangenen Jahr fünfmal eine Waffe eingesetzt – ebenso oft wurden Softair-Waffen oder waffenähnliche Gegenstände gebraucht.
Nach Einschätzung von Schulleitungen nimmt die Bereitschaft zur Bewaffnung an den Schulen jedoch zu. „Wir haben bemerkt, dass mehr Waffen zur Schule mitgenommen werden als früher“, sagt der Vorsitzende des Allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands, Sven Winkler. Es handele sich vor allem um Messer und Anscheinswaffen, also Waffen, die echten Schusswaffen täuschend ähnlich sehen. Ob Schüler die Waffen dabei haben, weil sie gewaltbereit sind oder weil sie Angst haben und diese zur Selbstverteidigung nutzen wollen, sei unklar.
Der Verbandsvorsitzende verweist darauf, dass der Umgangston zwischen Kindern und Jugendlichen in der Schule rauer geworden sei – zumindest sei das der Eindruck vieler Schulleitungen. Um Gewalt zu verhindern, versuchen viele Schulen die Sozialarbeit auszubauen. Oft fehle es aber an Personal, Zeit und Geld, so Winkler, der auch Leiter einer Schule im niedersächsischen Oldenburg ist. Häufig gebe es lokale Netzwerke etwa mit den Schulträgern, der Jugendhilfe und der Polizei, um Ursachen von Fehlverhalten und Gewalt zu ergründen und künftig zu verhindern. Grundsätzlich seien Kinder und Jugendliche in den Schulen mindestens genauso sicher wie in anderen Kontexten.
Gründe kennen, Lösungen finden
Die Gründe, dass Schüler und Schülerinnen Gewalt ausüben oder androhen, sind nach Einschätzung des Brandenburger Bildungsministeriums vielschichtig. Dazu zählten Faktoren wie „Defizite in der Selbststeuerung und geringes Selbstwertgefühl, aber auch familiäre und soziale Ursachen wie Gewalterfahrungen in der Familie oder Akzeptanz sowie soziale Normen und Werte und die jeweilige Akzeptanz in der Gruppe der Gleichaltrigen“. Auch Gewaltinhalte in Medien und auf Online-Plattformen könnten aggressives Verhalten begünstigen.
Die Beratungsstelle Gewaltprävention der Hamburger Schulbehörde erkennt vor allem in den Einschränkungen während der Corona-Pandemie eine Ursache für die sich häufende Gewalt an Schulen. Es habe neun Monate kein Präsenzleben in der Schule und damit auch kaum ein soziales Lernen mit Gleichaltrigen und schulischem Personal gegeben. Auch außerhalb der Schule hätten wegen der Pandemie soziale Kontakte gefehlt. Gleichzeitig hätten präventive Maßnahmen in den Schulen ausgesetzt oder eingeschränkt werden müssen. Die Folge: „Bei der Rückkehr in die Schulen agierten viele Kinder und Jugendliche aufgrund dieser Defizite durch körperliche Auseinandersetzungen und Gewalt“, erklärt die Beratungsstelle. Sie gehe aber davon aus, dass die Zahlen in den kommenden Jahren wieder sinken würden.
In Thüringen arbeitet laut dem Bildungsministerium derzeit eine eigens eingerichtete Arbeitsgruppe zum Thema Gewalt an Schulen, um mit Maßnahmen auf die gestiegenen Fallzahlen zu reagieren. Denkbar sei etwa die Schärfung der pädagogischen Interventionsformen, die Überarbeitung von Notfallunterlagen, ein digitales Hilfsangebot für Schulen und Pädagogen oder ein verbessertes Deeskalationsmanagement. News4teachers / mit Material der dpa
Messerangriffe an Schulen „nicht verharmlosen“: Gewaltexperte rechnet mit weiteren Vorfällen