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“Pflichtübung ohne Glanz und Freude”: Was ein Didaktik-Professor (und Vater) der Schule ins Stammbuch schreibt

DARMSTADT. PISA-Chef Andreas Schleicher hat unlängst eine Bildungsdebatte auf News4teachers angestoßen, in dem er die Lehrpläne in Deutschland als zu voll kritisierte. “Weniger Stoff in größerer Tiefe vermitteln, das wäre wichtig”, so erklärte der OECD-Bildungsdirektor im Interview. Es müsse mehr darum gehen, Schülerinnen und Schülern Zusammenhänge, letztlich Lernfreude, zu vermitteln. Unser Gastautor Prof. Ralf Tenberg hat als studierter Lehrer, Technikdidaktiker und Vater eine eigene Sicht auf das Thema, die er in folgendem Beitrag darlegt. 

Gelingt es der Schule, Kinder fürs Lernen zu begeistern? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

… heute Nachmittag kommt mein Sohn, 7. Klasse Gymnasium zu mir: Bio abfragen. Thema: Verdauung des Menschen. Magen, Darm, Enzyme, Kohlehydrate, Fette, Proteine, Gallenblase, Bauchspeicheldrüse, usw. Nach zwei Runden sitzt alles. Er kann: auswendig alles aufzählen, die Stoffwechselprozesse erklären, er weiß sogar, warum man eine möglichst große Dünndarmfläche braucht. Er wird eine Eins schreiben und dann – in allerspätestens 2 Monaten – alles wieder vergessen haben.

Was ich gerne getan hätte: mich mit ihm über folgende Themen unterhalten: Gesunde Ernährung, Sporternährung, ernährungsbedingte Krankheiten, Zellstoffwechsel, usw. Warum habe ich das nicht getan? Weil ich die Antwort kenne: „Das ist alles sehr interessant Papa, aber es stört das, was ich gelernt habe. Wenn ich das jetzt mit Dir bespreche, vergesse ich wieder einen Teil des Gelernten oder es besteht die Gefahr, dass ich hier Dinge verwechsle“.

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Also belaste ich mein Kind nicht damit, nutzlos und sinnfrei gelernte Beliebigkeiten mit Leben zu erfüllen, mit ihm zu besprechen, warum das alles sehr interessant und relevant ist und vor allem, wo sich hier weitere Anschlusspunkte für anderes Wissen bzw. Handlungsmöglichkeiten ergeben, um sein zentrales Ziel – gute Noten – nicht zu gefährden. Er weiß genau, was ich damit meine, und versteht auch meinen Anspruch hier, aber er hat mir sehr deutlich klar gemacht, dass ihm für die nächsten Schritte in seinem Leben, nämlich Studium und Berufseinstieg, entsprechende Noten deutlich mehr bringen als ein komplexes Weltverständnis.

“Die Lehrer sieht mein Sohn differenziert, manche sind für ihn selbst Opfer, manche sind ‘ganz ok’, manche sind indiskutabel”

Er wird das schaffen, in allen Fächern über die Stöckchen springen, die man ihm hinhält, genau herausfinden – Test für Test – was er abspulen soll und sich so am Unterricht beteiligen, dass auch die Epochalnote stimmt. Er wird auch ein komplexes Weltverständnis entwickeln, nicht aber durch die Schule, sondern trotz ihr, vor allem aus unserer Familie heraus und seinen außerschulischen Kontexten. Spaß macht ihm das nicht und sein Bild von Schule ist nüchtern.

Die Lehrer sieht er differenziert, manche sind für ihn selbst Opfer, manche sind „ganz ok“, manche sind indiskutabel. Morgen wird er wieder seinen überfüllten Rucksack schnappen und losgehen, um 16.30 nach Hause kommen, sein Zeug lernen und danach dann das tun, was ihm Spaß macht, Sport oder Spiel. So ist das in unserem Schulsystem für die Guten und Erfolgreichen, eine akzeptierte Pflichtübung ohne Glanz und Freude. Für die weniger Erfolgreichen kommt noch Frust, Angst und Versagen dazu. „Vielen Dank für Nichts“ an alle, die dafür verantwortlich sind.

… jetzt doch noch ein wenig Wissenschaft hinterher.

  1. Selbst auf eine Einzelperson bezogen ist Lernförderung eine große Herausforderung, da Menschen hier situativ, thematisch und zielbezogen inkonsistent sind. Das heißt, dass wir je nach Thema und spezifischer Stunden-, Tages- oder Gesamtmotivation im Hinblick auf die Instrumentalität eines zu erreichenden Ziels unterschiedlich an einen Lernprozess herangehen, diesen handhaben und schließlich abschließen. Für die Lehrperson ist es kaum möglich, das jeweils auszuloten und dem dann auch gerecht zu werden, sogar der Lernende selbst ist hier in seinen Möglichkeiten begrenzt. Methodik bedeutet hier gezielte Annäherung an individuelle Dispositionen in möglichst reflexiver Regulation. Gute Nachhilfeunterricht sieht so aus.
  2. Da es schon bezogen auf ein einzelnes Individuum sehr schwierig ist, wird Lernförderung in einem Gruppenszenario noch komplexer. Hier kann keine individualisierte Methodik zum Einsatz kommen, hier muss man auch eine Angebots-Methodik ausweichen. D.h. die Lernenden müssen in die Lage versetzt werden, sich aus einem Methodenrepertoire das auszuwählen, was für sie am besten passt. Für die Lehrperson steigt damit der Vorbereitungsaufwand erheblich, im Unterricht selbst muss sie versuchen, möglichst genau die einzelnen Lernprozesse zu verfolgen, um zu beraten, unterstützen, intervenieren.
  3. Je mehr ein Lernziel über das einfache Repetieren hinausgeht, desto anspruchsvoller und komplexer wird die Methodik. Umgekehrt verhält es sich mit der Lernmotivation: Je mehr Sinn ein Lernender im Zu Lernenden erkennt, desto lieber wird er sich damit auseinandersetzen und desto mehr wird er das Gelernte verinnerlichen. D.h. wer Motivation und Wirkung will, muss Aufwand betrieben, wem das egal ist, der beschränkt sich auf die Instruktion und deren Kontroll-Formate.
  4. Bildung beginnt erst dort, wo ein Mensch eine Beziehung zwischen sich, den anderen und dem Gelernten herstellt. Bildung ist der (lange und unsichere) Weg zur Mündigkeit, sie hängt mit einem komplexen Weltverständnis aber auch mit zentralen Werten zusammen. Das, was in PISA also unter Literacy verstanden wird, birgt in sich ein verkürztes Bildungsverständnis. Ein Beispiel: Wenn ich die Industrielle Revolution tiefer verstehen will, muss ich über ein integriertes Wissen über Technologien (Dampfmaschine, Bergbau, Stahlproduktion, Eisenbahn, …), Politik (Monarchien, Imperialismus, …), Wirtschaft (Adam Smith, …), Arbeitsorganisation (Winslow Taylor, …), Soziologie (Klassengesellschaften, Verstädterung, …) verfügen. Dies ist in unseren aktuellen Fächerstrukturen weder möglich noch erwünscht.
  5. Nach Klafki soll Bildung sowohl auf die Gegenwart als auf die Zukunft ausgerichtet sein. Dies ist durch die Digitalisierung – schon auf die Gegenwart bezogen – deutlich ins Hintertreffen geraten, bezogen auf eine Zukunft mit artificial intelligence, Quantencomputern, blockchain, human enhancement etc. sind wir VÖLLIG BLANK! Ein Kollege hat uns in einem Vortrag vor Kurzem als entmündigte Cyborgs charakterisiert, als teil-technisierte Organsimen, die sich und ihre technologische Einbettung nicht verstehen können und ihr damit ausgeliefert sind. Wer das nicht glaubt, kann es im Selbstversuch sehr einfach testen: verbringen Sie 1 Woche ohne ihr eigenes oder fremdes Smartphone, Computer oder Tablet.

Zusammengefasst: Das, was mein Sohn aktuell als Unterricht erlebt, ist der Abgesang an eine auslaufende Epoche. Alle Lehrer, die das so praktizieren, sind so ausgebildet worden und auch sozialisiert – sie könnten es ein wenig verbessern, wären aber trotzdem gefangen in einem Gesamtsystem, das auf Informieren – Speichern – Wiedergeben – Löschen setzt. Wir trainieren also unsere nachkommende Generation genau in dem, was die Maschinen inzwischen millionenfach besser und schneller können. Ein totes Rennen.

Anstatt mit den Maschinen wettzueifern, müssen die Menschen sie verstehen und handhaben können – Generation für Generation. Technik muss dringend den Stellenwert in der Bildung erhalten, der ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gerecht wird. Alle Fächer und der Unterricht müssen darauf ausgerichtet sein, dass komplexe Zusammenhänge, Prozesse, Systeme verstanden werden, nur so können wir unsere Stärken gegenüber Computern in Kreativität, Emotionalität, Ethik, Zusammenarbeit und Flexibilität entwickeln und ausbauen. News4teachers

Der Autor, Dr. Ralf Tenberg, ist Professor für Technikdidaktik und Geschäftsführer des pädagogischen Instituts der Universität Darmstadt. Er ist Gutachter in universitären Berufungsverfahren, nationalen und internationalen Förderlinien, Mitbegründer und Herausgeber des International Journal of Technical Education (JOTED) und Redakteur der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW).

„Weniger Stoff in größerer Tiefe vermitteln – das wäre wichtig!“ PISA-Chef Schleicher im News4teachers-Interview

 

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