BERLIN. In diesen Tagen jährt es sich zum 15. Mal, dass der Bundestag die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und damit zum Gesetz in Deutschland gemacht hat. „Das ist genug Zeit, sollte man meinen, die Selbstverpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems gut geplant in die Fläche zu bringen und zumindest jedem Kind oder Jugendlichen mit Behinderung, das inklusiv lernen will, einen gut erreichbaren Platz in einer guten inklusiven Schule zu bieten“, so meinen Zivilverbände. Die Realität sehe aber anders aus.
Beispiel Nordrhein-Westfalen: „Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine allgemeine Schule besuchen, ist zwar auf weit über 40 Prozent gestiegen, aber die Förderschulen sind nach wie vor voll. Der angeblich so hohe Inklusionsanteil hat vor allem einen Grund: immer mehr Schüler*innen der allgemeinen Schulen wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben“, so erklärt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Kölner Vereins mittendrin. „Vielerorts planen und bauen die Kommunen und die Landschaftsverbände sogar neue zusätzliche Förderschulen. Absehbar ist: Nach 15 Jahren Rechtsgültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention baut Nordrhein-Westfalen nicht die inklusive Bildung aus, sondern das Förderschulsystem.“
Dabei zeigten einzelne Schulen eindrucksvoll, dass Inklusion für Kinder und Jugendliche jeglicher Behinderung möglich sei und gelinge. „Die Mehrheit der ‚inklusiven‘ Schulen jedoch ist vor allem für Kinder mit körperlichen, geistigen oder Sinnesbehinderungen immer noch nicht eingerichtet. Vielen Eltern bleibt keine ernsthafte Wahl, als an einer Förderschule anzumelden“, so Thoms.
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) schreibt in Artikel 24 ein „integratives Schulsystem auf allen Ebenen“ vor. Die Exklusionsquote – die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Sonder- bzw. Förderschulen also – stagniert in Deutschland jedoch seit Jahren. Erst im vergangenen Sommer wurde Deutschland zum zweiten Mal einer Staatenprüfung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der UN-BRK unterzogen – und kritisiert. Der zuständige Fachausschuss forderte die Regierungen in Bund und Ländern auf, Förderschulen abzubauen und die inklusive Entwicklung des Schulsystems zu beschleunigen. Deutschland, so hieß es, solle dafür sorgen, dass die Bundesländer endlich Aktionspläne aufstellen, die mit den Vorgaben übereinstimmen (News4teachers berichtete).
„Dies kommt einer beispiellosen Bloßstellung der Länder gleich, die der UN-Behindertenrechtskonvention zwar am 19. Dezember 2008 im Bundesrat einstimmig und verbindlich zugestimmt haben, seitdem aber in der Schulpolitik, für die sie selbst zuständig sind, die notwendige inklusive Schulreform verzögern und verschleppen“, erklärt Thoms. „Nordrhein-Westfalen hatte zum Schuljahr 2014/2015 das Schulgesetz in Richtung Inklusion reformiert. Doch seitdem lassen die wechselnden Landesregierungen die Entwicklung schleifen, mit dem Ergebnis, dass die Schul- und Unterrichtsentwicklung für Inklusion zurückbleibt und Eltern wieder vermehrt an Förderschulen anmelden.“
Ausgerechnet das „Elternwahlverhalten“, das durch die Vernachlässigung der Inklusion entsteht, würden von der aktuellen schwarz-grünen Landesregierung zum Anlass genommen, die Förderschulen voranzutreiben. „Sie entfernt sich damit immer weiter von den Vorgaben des NRW-Schulgesetzes, in dem das Gemeinsame Lernen Vorrang genießt und als Regelfall festgeschrieben ist. Anstatt endlich den im Koalitionsvertrag vereinbarten Aktionsplan für inklusive Bildung vorzulegen, hat Schulministerin Dorothee Feller bisher nur eine Liste zusammenhangloser Einzelmaßnahmen vorgelegt, die abermals nicht geeignet sind, die inklusive Bildung in die Fläche zu bringen und wesentlich in ihrer Qualität zu verbessern.“
Auch aus anderen Bundesländern melden sich Betroffenenverbände zu Wort.
So aus Hessen. „Alle schulpflichtigen Kinder werden in die allgemeine Schule aufgenommen“, so heißt es im Landesschulgesetz. „Das ist die Theorie und das gute Recht des Kindes“, meint Dorothea Terpitz, Vorsitzende des Vereins Gemeinsam leben Hessen. „Die Praxis sieht aber anders aus: Die Eltern kommen oft gar nicht bis zur Anmeldung ihres Kindes mit Behinderung an die allgemeine Schule. Denn in den Schulen herrschen Personalmangel und Überforderung mit dem bestehenden System dieser allgemeinen Mangelverwaltung. Schulen selektieren und sortieren daher von vorneherein aus, was ihnen möglich ist. Eltern werden von den allgemeinen Schulen, die ihr Kind mit Behinderung doch selbstverständlich aufnehmen sollten, zunehmend dazu gebracht, ‚freiwillig‘ die Förderschule zu wählen. Sie werden gezwungen, der Ressource zu folgen, die im Sondersystem festhängt, weil die Landesregierung auch 15 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK noch keinen Plan zur konsequenten Umsetzung von Inklusion vorgelegt hat.“
„In der Realität ist es vielen Kindern mit Behinderung verwehrt, an ihren Wohnortschulen zu lernen”
Beispiel Baden-Württemberg. „In der Realität ist es vielen Kindern mit Behinderung verwehrt, an ihren Wohnortschulen zu lernen. Es werden ‚Zwangsgruppen‘ an irgendwelchen Schulen, quasi Schwerpunktschulen durch die Hintertür, gebildet. Für diese und für ausgelagerte Sonderschulklassen fahren Kinder mit Behinderung in Bussen quer durch die Lande, Tag für Tag. Auch die normalen Berufsschulen stehen vielen nicht offen. Für einen Vorrang der Inklusion, die Abschaffung der Außenklassen und inklusive Anschlüsse an die Sekundarstufe 1 fehlte den Schulgesetzesmachern 2015 der Mut. Der jetzigen Landesregierung fehlt dazu schon der Wille“, kritisiert der Verein „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“.
Andersherum: „Jede noch so kleine Sonderschule wird in Baden-Württemberg erhalten. Durch das Festhalten am Doppelsystem (Sonderschulen und inklusive Schulen) fehlt es vor allem für die Inklusion an Geld und Personal. Die Exklusionsquote – also die Zahl der Kinder, die an Sonderschulen lernen – ist in Baden-Württemberg seit Inkrafttreten der UN-BRK wieder gestiegen. Das ist ein Skandal. Einen Plan, dies zu ändern, gibt es nicht, schon gar keinen Zeit- oder Maßnahmenplan.“
Schlimmer noch: „In Baden-Württemberg setzen die Schulämter ‚Inklusion‘ nach eigenem Gutdünken um. Etikettenschwindel ist an der Tagesordnung. Ausgelagerte Sonderschulklassen werden als ‚inklusiv‘ verkauft, Eltern noch immer stark ins Sondersystem beraten und gedrängt. Das Kultusministerium schaut bei all dem zu. Es wird überwiegend noch immer von Menschen bestimmt, die sich viele Jahre als überzeugte Verfechter des Sondersystems positioniert haben und auch weiter die völlig inakzeptable Meinung vertreten, dass Sonderschulen legitimer Teil eines inklusiven Schulsystems sind.“
Die Verbände fordern zweierlei:
Dass die Landesregierungen
- „sich klar zur UN-Behindertenrechtskonvention bekennen und sich mit Nachdruck und verbindlich für die vollständige Umsetzung von inklusiver Bildung einsetzen“ und dass sie
- „das Ergebnis der Staatenprüfung ernst nehmen und einen wirksamen Aktionsplan für den Ausbau inklusiver Schulen vorlegen. Dieser Aktionsplan muss einen konkreten Zeitplan enthalten, bis wann der inklusive Umbau des gesamten Schulsystems abgeschlossen sein soll. Er muss die notwendigen Maßnahmen für Schulentwicklung, Qualität und Personal enthalten und koordinieren. Und er muss klare Verantwortlichkeiten für die Steuerung der inklusiven Entwicklung benennen sowie eine ausreichende Finanzierung hinterlegen.“ News4teachers
