BIELEFELD. Patricia Drewes ist Lehrerin – genauer: Didaktische Leiterin des Gymnasiums Bethel in Bielefeld – und sie ist genervt. „Ich bin gerade mal wieder der ganzen Posts und Talkshow-Mitschnitte darüber, wie kaputt angeblich das Bildungssystem sei, gern auch mit einer Rundum-Schelte gegen verbeamtete, faule, unfähige, innovationsfeindliche Lehrkräfte verbunden, sehr müde”, so schreibt sie auf Linkedin. Und: „Ich vermisse einen konstruktiven und systemsensiblen Diskurs in der Öffentlichkeit.” Als ersten Aufschlag dafür hat sie selbst einen Beitrag verfasst, den wir im Folgenden veröffentlichen.

Morgens nicht recht, mittags nicht frei – was macht den Lehrberuf so attraktiv?
Ja, Deutschland hat die Digitalisierung im Bildungsbereich lange verschlafen, ja, die Gebäude sehen vielerorts nicht super aus, ja, Schule ist in manchen Bereichen strukturell konservativ. Aber: Irgendwie schafft es die Organisation ja auch, sich jeden Tag wieder selbst zu erschaffen. Und das manchmal gar nicht so schlecht. Aus der Innenperspektive sehe ich: Viele motivierte Kolleg:innen, die über das Maß hinaus arbeiten, einen Quantensprung in Sachen Digitalisierung, Schüler:innenwahlen, Aufstehen für Demokratie, Projekte wie aula gGmbH und und und …
“Wer Menschen in ihrer Vielfalt und ihrem So- und Anderssein mag, wer Kommunikation wertschätzt, der ist in Schule gut aufgehoben”
Für Menschen, die am System und im System Schule arbeiten, sind diese oft undifferenzierten Pauschalverurteilungen zum einen irritierend, weil die Innenwelt oft anders aussieht, zum anderen: Glaubt jemand, dass das Kaputtreden eines Systems dazu führt, qualifizierte junge Menschen für Schule zu begeistern? Ich habe in den letzten Monaten viel darüber nachgedacht, ob ich mir in Zukunft „noch mehr Schule“ zumuten möchte. Am Ende stand ein Ja zum System – mit all seinen Herausforderungen. Und hier sind einige der Gründe:
Schule als Ort der menschlichen Begegnung: Wo, außer in Schule, treffen Menschen täglich auf so viele unterschiedliche Menschen? Alte, junge und mittelalte, Menschen mit internationaler Familiengeschichte und Menschen ohne eine solche, religiöse und atheistische Menschen, Veganer:innen und Omnivoren, Grünen- und FDP-Sympathisant:innen. Wenn wir es als Schulen geschickt anstellen, gibt es so viel echten Dialog wie selten im Leben. Schule ermöglicht Diskussion und Begegnung – anlassbezogen im Unterricht und in außerschulischen Veranstaltungen, anlasslos und zufällig auf dem Pausenhof, in der Mittagspause, in Freiräumen auf Klassen- und Kursfahrten. Aus diesen Begegnungen erwächst die Chance, mehrperspektivisch zu denken, über das eigene Toleranzverständnis nachzudenken, sich in Respekt zu üben und ein Stück weit Gesellschaft im Kleinen kennenzulernen. Wo Menschen sich im Erwachsenenleben aus dem Weg gehen oder anonymisiert auf Social Media beschimpfen können, erfordert die Präsenz im selben Raum die eigene Zurücknahme und das Aufeinander-Zugehen gleichermaßen.
Wer Menschen in ihrer Vielfalt und ihrem So- und Anderssein mag, wer Kommunikation wertschätzt, der ist in Schule gut aufgehoben.
Schule als Ort des Demokratielernens: Schulen sind nicht per se demokratisch angelegt. Sie bieten aber vielfältige Anlässe, Demokratie kennenzulernen, im Unterricht als Staats- und Gesellschaftsform, in der Gestaltung des Schüler:innenalltags als Lebensform. Aktive SV-Arbeit, Klassenräte, Demokratieprojekte wie aula, Podiumsdiskussionen etc … (und vor allem das Ernstnehmen von Schüler:inneninteressen in allen Bereichen des Schulalltags) können Demokratie als etwas erlebbar machen, für das es sich einzusetzen und zu kämpfen lohnt, inklusive der Erfahrung, dass Prozesse manchmal langwierig sind, manche Entscheidungen die eigene Kompromissfähigkeit herausfordern etc …
Fair streiten lernen, für seine Positionen einstehen, sie artikulieren können und dabei Respekt vor den Meinungen anderer haben, solange sie sich innerhalb des demokratischen Spektrums bewegen – all das kann Schule sein und Schule machen.
Schule als Impuls und Herausforderung, immer neu zu lernen (und zu verlernen): Wer am Ende von Studium und Referendariat denkt, er habe ausgelernt, der irrt. Jedes neue Curriculum, jede neue Klasse und Lerngruppe, jede gesellschaftliche, politische, ökologische und ökonomische Krise, jede Herausforderung, die sich im Schulalltag stellt, ist eine Aufforderung für Lehrkräfte, den eigenen Radius zu erweitern. Bei manchen Themen geht das gut, bei anderen ist Überwindung nötig.
Lehrperson sein heißt auch, regelmäßig Gewissheiten zu hinterfragen und sich selbst konstruktiv-kritisch zu reflektieren. Dankenswerterweise müssen wir das nicht allein tun, sondern haben mit Schüler:innenfeedback, kollegialer Hospitation u.ä. viel Gelegenheit, wohlwollend und freundlich an uns selbst zu arbeiten. Schule hält den Kopf jung, ohne dass Lehrkräfte dafür Kreuzworträtsel lösen oder Nahrungsergänzungsmittel schlucken müssten.
Schule als Ort der menschlichen Kostbarkeiten: In nahezu jeder Kultur gelten Kinder und Heranwachsende als Hoffnungsträger:innen der Gesellschaft. Man feiert ihre Geburt, es gibt Initiationsriten, eine lange Phase, in der sie geschützt aufwachsen dürfen. Gleichzeitig trägt die Gesellschaft vielfältige Erwartungen an sie heran. Diese nicht unreflektiert auf sie zu übertragen, sondern mit jungen Menschen in einen Aushandlungsprozess zu gehen über Werte und notwendige Kursänderungen auch der älteren Generationen, ist eine verdammt große und wertvolle Aufgabe.
Kleine Menschen bei ihrem Lernen und dabei selbst lernend zu begleiten, bis sie diese Begleitung nicht mehr nötig haben und gefühlt einen halben Meter über uns hinausragen, dabei in Beziehung zu treten und in Resonanz sein, ist etwas, das ich als sehr erfüllend wahrnehme.
Schule als Ort, an dem Veränderung möglich ist: Ja, auch das. Ins Gesicht derer gesagt, die keine Rettung mehr sehen, das System regelmäßig für tot erklären und Hierarchie, Bürokratie und Verwaltung nicht als Beschreibung einer Organisationsform, sondern Schimpfwort betrachten. Schule sieht nicht mehr aus wie vor 10 Jahren, vor 20 Jahren, vor 30 Jahren. Es gibt Lernbüros, Projektlernen, benotungsfreie Räume, Möglichkeiten zum sozialen Lernen etc … Vielerorts ist man von der Digitalisierung zur Digitalität fortgeschritten und kann beides auch terminologisch auseinanderhalten. Lehrkräfte experimentieren mit KI, gründen eigene Firmen und reden an vielen Stellen im Netz darüber.
“Schule ist kein Startup, aber das heißt nicht, dass sie immun gegen Change wäre. Sie geht dabei nur andere Wege als ein Unternehmen”
An vielen Schulen arbeiten engagierte Lehrkräfte in Steuergruppen, offenen Schulentwicklungsgruppen, Arbeits- und Projektgruppen daran, dass sich die Dinge ändern. Und sie ändern sich – manchmal langsam und unbemerkt und oft wird erst in der Rückschau einer Dekade bemerkbar, dass nicht nur die Overheadprojektoren das Klassenzimmer verlassen haben, sondern auch Haltungen reflektiert werden, mit Prüfungsformaten experimentiert wird und sich der Ton zwischen Schüler:innen und Lehrkräften verändert hat.
Ja, ich könnte meinen Blick täglich auf die Grenzen des Machbaren richten und darüber klagen, dass der Schulalltag an vielen Tagen anders verläuft als in meinen kühnsten Träumen, dass dem Alltagsgeschäft zu viel Raum gegeben werden muss, die Arbeitszeiten ausfransen etc … Das würde mich aber nicht glücklich machen. Darum richte ich den Blick auf das mit und im Kollegium und in der Zusammenarbeit mit Schüler:innen und Eltern Machbare.
Schule ist kein Startup, aber das heißt nicht, dass sie immun gegen Change wäre. Sie geht dabei nur andere Wege als ein Unternehmen. Womit wir beim letzten Punkt wären:
Schule als Faszinosum der Organisationssoziologie: Es fällt schwer, Schule organisationssoziologisch zu greifen. Das führt vielerorts in einem Abwehrreflex dazu, zu sagen: „Jaaa, in der Wirtschaft geht das, aber in Schule ist das alles nicht möglich“ – nicht gerade hilfreich, wenn Menschen Dinge ändern wollen, sich Organisationsberatung aber nun einmal primär auf gewinnorientierte Unternehmen konzentriert.
Was ist Schule denn nun? Ein paar nüchterne Antwortangebote:
- Eine funktional gegliederte Hierarchie mit Zwangsmitgliedschaft der minderjährigen Gruppe (und damit vergleichbar einem Gefängnis oder einer Armee mit Wehrpflicht).
- Ein Zweckprogramm, das vor allem darin besteht, Zertifikate auszustellen, die gesellschaftlichen Aufstieg bzw. Teilhabe versprechen.
- Ein so lose gekoppeltes System, das es ermöglicht, dass Schulkarrieren und Wahrnehmung der eigenen Schulzeit zwischen Person A und Person B stark schwanken können.
- Künstlerateliers unterm Schuldach mit ausgeprägten Autonomie-Paritäts-Mustern der einzelnen Lehrkräfte.
Die Liste kann fortgesetzt werden. Deutlich wird, dass Schulen komplexe Gebilde sind, in denen eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Teilsysteme (Eltern, Lehrkräfte, Schüler:innen, Schulträger, Bildungsadministration, Wirtschaft, Politik) Deutungshoheit beanspruchen und dabei nicht selten in Rangeleien verfallen. Vielfach lassen Äußerungen Dritter über Schule erschreckende Defizite in der Kenntnis des Systems erkennen, die ausschließlich aus der biographischen Binnenperspektive gespeist werden.
Manchmal schützt mich der organisationssoziologische Blick davor, überzogene Ansprüche an Schule zu stellen, was nicht heißen soll, dass ich Schule für veränderungsresistent halte (im Gegenteil, wer mich kennt, weiß, dass ich gern dezent mit der Abbruchbirne hantiere), sondern überzeugt bin, dass die Anstrengungen (wenn sie denn echt sind und nicht auf der Ebene des medienwirksamen Bashings stehenbleiben) besser kanalisiert werden können, wenn Funktionsweisen und Kultur des Systems bekannt sind.
Das System mit den geeigneten Instrumenten von Zeit zu Zeit aus der Vogelperspektive zu betrachten, kann sehr tröstlich sein und einseitige Schuldzuweisungen ad personam vermeiden helfen. Es schützt letztlich alle an Schule Beteiligten davor, Kraft zu vergeuden und in medienwirksame Systemschelte zu verfallen, die aber letztlich selbstschädigend wirkt. News4teachers
