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Kein Grund zum Feiern: Seit zehn Jahren herrscht Stillstand bei der Inklusion (wie das Beispiel Sachsen-Anhalt zeigt)

MAGDEBURG. Deutschland hat sich im vergangenen Jahr eine Rüge der Vereinten Nationen dafür eingehandelt, dass die schulische Inklusion hierzulande in den vergangenen zehn, 15 Jahren kaum vorangekommen ist. Ist das wirklich so? Exemplarisch lohnt ein Blick nach Sachsen-Anhalt, wo der Anteil von Kindern und Jugendlichen, die an gesonderten „Förderschulen“ unterrichtet werden, so groß ist wie in keinem anderen Bundesland. Dort gibt es aktuelle Zahlen.

Die UN-Behindertenkonvention feiert in diesem Jahr den 15. Jahrestag ihres Inkrafttretens in Deutschland – passiert ist allerdings wenig (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Über die Frage, was Inklusion in der Schule überhaupt bedeutet, wird in Magdeburg gerade hitzig gestritten. Das Bildungsministerium dort betont, es gehe dabei um mehr als um gemeinsamen Unterricht. In der Praxis steht aber allzu oft ein Weniger: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die außerhalb des Regelsystems beschult werden, ist in Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich am höchsten. Und: Seit zehn Jahren bewegt sich in Sachen Inklusion dort praktisch nichts mehr.

Das lassen aktuelle Zahlen erkennen. Zuletzt stieg in Sachsen-Anhalt die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit amtlich festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf weiter leicht an (ein bundesweiter Trend, News4teachers berichtete). Wie aus Zahlen der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen hervorgeht, fielen im vergangenen Schuljahr knapp 12.400 Schülerinnen und Schüler darunter – davon besuchten rund 5.350 eine Regelschule. Vor zehn Jahren waren es etwas mehr als 10.600 Kinder und Jugendliche, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt worden war – 4.640 von ihnen besuchten eine Regelschule. Das waren damals wie heute nur rund 43 Prozent.

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Eine weitere Maßzahl bestätigt den Stillstand über eine Dekade hinweg: der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die eine Förderschule besuchen (müssen), nämlich. Er liegt aktuell bei 6,4 Prozent – auch das liegt auf dem gleichen Niveau wie schon vor zehn Jahren.

Und auf welchem Niveau? Bundesweit vergleichbare Zahlen der Kultusministerkonferenz liegen zuletzt aus dem Jahr 2022 vor. Hier hatte Sachsen-Anhalt, ebenfalls mit 6,4 Prozent, den höchsten Anteil von Schülerinnen und Schülern, die an Förderschulen unterrichtet werden. Bundesweit lag der Schnitt bei 4,2 Prozent. In manchen Ländern wie Schleswig-Holstein (2,3) oder Bremen (0,7) sogar deutlich darunter.

Kritik an schleppender Umsetzung von UN-Konvention

Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, Susan Sziborra-Seidlitz, kritisiert daher die Landesregierung. Die Koalition aus CDU, SPD und FDP habe vereinbart, mehr Ressourcen in inklusiven Unterricht zu stecken, aber der Anteil der Förderschulen sei immer noch zu hoch. Sziborra-Seidlitz fordert, dass der gemeinsame Unterricht Vorrang vor Unterricht an Förderschulen haben solle und dies auch im Schulgesetz so formuliert werde. Vor 15 Jahren ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten (darunter eben Deutschland) unter anderem, „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu schaffen.

Zu wenig Geld, kein Konzept, keine Fortschritte – der Bericht, den der für die Behindertenrechtkonvention zuständige Fachausschuss der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr über die Inklusion in Deutschland herausgab, fiel vernichtend aus (News4teachers berichtete). „Der Ausschuss ist besorgt über die mangelnde vollständige Umsetzung inklusiver Bildung im gesamten Bildungssystem und die Verbreitung von Sonderschulen und -klassen“, so hieß es als Fazit der sogenannten Staatenprüfung.

Die Bundesregierung wird in dem Bericht dringend aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Bundesländer umfassende Aktionspläne vorlegen und umsetzen, um die Umwandlung der Sonderbeschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in eine inklusive Beschulung zu beschleunigen.

Die Landesregierung in Magdeburg verweist allerdings darauf, dass Inklusion mehr bedeute als gemeinsamer Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit oder ohne Förderbedarf. Ein großer Stellenwert werde der Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und Bildungsgängen beigemessen, so die Landesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage. Was das allerdings bedeutet (zum Beispiel mehr Wechsel von Förder- auf Regelschulen)? Diese Antwort bleibt das Bildungsministerium schuldig.

Stattdessen heißt es: „Ein wesentlicher Aspekt der Umsetzung des inklusiven Grundgedankens, der mehr ist als gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf, ist ein qualitativ hochwertiges Angebot in der Lehreraus-, -fort- und –weiterbildung. Hier stellt das Land sowohl Angebote für die Personalentwicklung aber auch für die Unterrichtsentwicklung zur Verfügung.“

Das Bildungsministerium betont aber auch: „Inklusive Bildung – also gemeinsame Lehr- und Lernprozesse von Menschen mit unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen – ist eines der zentralen Anliegen der aktuellen Bildungspolitik. Die Unterstützung und Förderung der Schulen auf ihrem Weg, ein Miteinander aller Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen und die Vielfalt von allen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften wertzuschätzen, ist die bildungspolitische Daueraufgabe unseres Landes.“

Und warum passiert dann so wenig? Auch dazu erklärt das Bildungsministerium nichts. Aber immerhin: „Um dieser Aufgabe Rechnung zu tragen, hat das Land eine Expertenkommission, bestehend aus Schulpraktikerinnen und Schulpraktikern aller Schulformen und Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden und Einrichtungen der Lehramtsausbildung und der Professionalisierung der Lehrkräfte eingerichtet. Die Empfehlungen der Expertenkommission werden zeitnah den parlamentarischen Gremien vorgestellt und beraten.“ Man darf also gespannt sein.

Und der Zug rollt bereits an, allerdings rückwärts. In Sachsen-Anhalt können Kinder mit Lern-Beeinträchtigungen „auf Elternwunsch“ seit Kurzem wieder gleich in eine Förderschule statt in eine reguläre Grundschule eingeschult werden. Mit Inklusion hat das nichts mehr zu tun, wie der Grundschulverband feststellte. News4teachers / mit Material der dpa

Von wegen Inklusion: Bundesland „erlaubt“ Eltern, gleich die Förderschule zu wählen

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