DÜSSELDORF. Viele Lehrkräfte erfahren Gewalt im Schulalltag – verbal sowie körperlich. Aktuell verweist darauf eine Umfrage des niedersächsischen Philologenverbands (News4teachers berichtete). Die Ergebnisse veranlassten unseren Gastautor, Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase, sich mit der Frage nach möglichen Ursachen dieser Entwicklung zu beschäftigen, um Maßnahmen zur Verbesserung aufzuzeigen. Seine Lösung: eine standardisierte, elektronische Leistungsmessung.
Warum sich niemand traut, die Gewalt gegen Lehrkräfte zu beenden
Seit geraumer Zeit häufen sich die Meldung über „Hass und Hetze“ gegen Politiker, Ärzte, Lehrer, Sozialpädagogen, Unfallhelfer, Rettungssanitäter und so weiter, sodass sich jeder normale Zeitgenosse und jede normale Zeitgenossin fragen muss: „Leben wir eigentlich noch in einer normalen Gesellschaft oder haben wir die Schwelle zur Gesetzlosigkeit überschritten?“ Und jetzt gibt es auch eine entsprechende Untersuchung vom Philologenverband Niedersachsen zur „Gewalt gegen Lehrkräfte“ (N=950 Mitglieder), deren Ergebnisse sich nahtlos in den allgemeinen Trend einfügen.
Normalerweise geht die Politik mit einem kräftigen verbalen Bekenntnis gegen Hass und Hetze und gegen Gewalt vor. Das heißt, sie ist verbal stark in der Verurteilung solcher Taten, weiß aber nicht, was man wirklich dagegen tun kann. Das „Machen“ ist ohnehin in den Hintergrund geraten. Unsere Politik reagiert nur noch verbal und symbolisch und sie kann bestenfalls ein „Anti Gewalt Straßenfest“ organisieren. Das tut sie, weil sie nur an der richtigen Presse interessiert ist und nicht mehr daran, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse an unseren Schulen ändern. Politik redet und labert von hochmoralischen Standards – aber niemand macht was. Das ist das neue Staatsversagen.
„Wir müssen davon ausgehen, dass die Eltern- und Schülerschaft (in Deutschland speziell) auf einem gigantischen Egotrip ist, der von Jahr zu Jahr schlimmer wird“
Das liegt zum Teil auch daran, dass sich die Politik an der Wissenschaft orientiert. Wissenschaft und Bildungspolitik haben beide keine richtige Ahnung mehr von der Realität an unseren Schulen. Ein Bildungspolitiker (ich meine jetzt als Beispiel einen Mann), so er denn überhaupt Lehrer war, weiß nicht, welche Schwierigkeiten in der Schule heute typisch sind, und er verlässt sich dann auf ein professorales Team universitärer Erziehungswissenschaftler. Und von denen sind nur wenige irgendwelche Leuchten im praktischen Vollzug von Unterricht und Schule. Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft nähren sich also von ausgedachten BüroiIlusionen, die sie sich nach der Lektüre des Feuilletons der Leitmedien machen.
Wenn man schon darüber schreibt, so wie ich das jetzt tue, dann sollte man regelmäßig in der Praxis arbeiten. Seit meiner Pensionierung vor 16 Jahren habe ich täglich mit Schulpraxis zu tun. Ich habe viel mehr über den Alltag an unseren Schulen erfahren als früher. Es hat sich vieles verschlechtert, was auch die Niedersachsen-Umfrage des Philologenverbandes zeigt:
- Der raue Ton und die Beschwerden, die verbale Gewalt gegen Lehrer, Beleidigungen unter Nutzung des Internets haben massiv zugenommen.
- Ich habe den Eindruck, dass sich vom Schulrat oder der Schulrätin aufwärts niemand wirklich mit der Gewalt gegen Lehrkräfte beschäftigen möchte, was durch die Umfrage des niedersächsischen Philologenverbandes auch bestätigt wird. Selbst die Schulleiter und Schulleiterinnen stehen nicht immer fest hinter ihren Lehrkräften, sondern haben alle irgendwie die Tendenz, solche unschönen Vorfälle zu verdrängen.
- Wenn überhaupt, dann wird nur verbal und symbolisch darauf reagiert. Die gesamte Schuladministration will nur der Presse keinen Anlass zur Berichterstattung bieten und bei den eigenen ParteigenossInnen einen tüchtigen skandalfreien Einsatz mimen.
Also kommen wir zu den Ursachen:
- Eltern und SchülerInnen sind massiv Ich-zentriert und bewertungssensibel. Wir müssen davon ausgehen, dass die Eltern- und Schülerschaft (in Deutschland speziell) auf einem gigantischen Egotrip ist, der von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Manchmal hat man den Eindruck, dass Menschen Autoritätspersonen, auch Ärzte und Rettungssanitäter, nur darum gewalttätig angehen, weil sie es nicht leiden können, dass andere Personen Experten sind und in einer Situation das Sagen haben. Und dass man ihnen unbedingt und ohne Einschränkungen Folge leisten muss. Das war auch früher so. Heute sind aber Eltern schon beleidigt – ja narzisstisch gekränkt – wenn ihr Kind kein Abi machen und nicht zur Uni gehen kann, sondern einen ganz normalen, wichtigen Beruf erlernen muss. Sie wissen, dass die Höhe des Schulabschlusses heute in der Gesellschaft überproportional und hysterisch aufgebläht bedeutsam ist. Eltern, deren Kinder Schulversager sind, sind unglücklich, trauen sich nicht in die Öffentlichkeit und fühlen sich blamiert vor der gesamten Gesellschaft. Das ist der Boden für aggressive Reaktionen.
- Das gemeinsame Lernen ist keine Lösung zur Verminderung der narzisstischen Kränkung, sondern eher eine Verstärkung. In einem gemeinsamen Unterricht verlieren diejenigen, die nicht Akademiker werden wollen, im schulischen Wettkampf natürlich am stärksten – ihnen wird Tag für Tag deutlich gemacht, dass sie zu den schlechteren gehören. Und die Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern dürfen keinesfalls zu den Schulversagern gehören. Dazu muss man wissen, dass die Heterogenität auch im Gymnasialbereich enorm zunimmt, das heißt, auch Elemente des gemeinsamen Lernens wirksam sind. An einer Hauptschule oder einer anderen Schulform, die spezifischer auf Schülerpopulationen zugeschnitten ist, gibt es immerhin die Möglichkeit, zur Elite zu gehören so wie es im Fußball auch in der dritten Liga einen Erstplatzierten, einen Gewinner oder Sieger und die Freude über Anerkennung gibt. Also gibt es insgesamt auch weniger narzisstische Kränkungen, also auch weniger Gewalt.
„Die standardisierte Beurteilung – für alle gleich, auch für alle Schulformen gleich – ersetzt den heute sehr menschelnden Sympathieprozess der Benotung und Notengebung“
Nun aber, wenn die Leistungsbeurteilung so wichtig wird, gibt es drei Möglichkeiten, mit den sensiblen und frustanfälligen Eltern- und Schülerschaften umzugehen, damit diese keinen Grund zur Entwicklung von Aggressionen haben.
- Milde Notenvergabe mindert die Gewalt gegen Lehrkräfte. Es gibt Lehrer und Lehrerinnen an allen Schulformen, die mit den Noten in den oberen Bereich gegangen sind. Das heißt, es gibt mehr sehr gute und gute Noten, weil der Druck von Seiten der Schüler und Eltern vor allen Dingen darauf drückt, optimale Noten zu haben. Das sind sie ihrem egozentrischen Zustand geschuldet: Alles, was zu mir gehört, muss absolute Spitze sein und so weiter. Dann wollen wir mal milde zensieren – dann haben wir nicht so viele Proteste. Ein gangbarer Weg?
- Ganz offiziell: Nicht mildes Zensieren, sondern die Anforderungen zu senken, mindert Gewalt gegen Lehrkräfte. Es gibt auch in der Wissenschaft und in der Praxis eine Menge Kollegen und Kolleginnen, die die Leistungsbeurteilung weicher machen wollen. Das heißt: Gute Noten wären dann ganz offiziell leichter erreichbar, zum Beispiel durch Notenrelevanz von Hausarbeiten (die natürlich im Krisenfall von Verwandten oder bezahlten Studierenden geschrieben werden), durch Beurteilung der mündlichen Mitarbeit (sehr inobjektiv) oder gar durch Kompetenzorientierung (Wissen spielt keine Rolle mehr). Weiche Methoden führen bei Schülern und Eltern zum Eindruck, dass es nur auf ein gutes Verhältnis zum Lehrer ankommt, um eine gute Note zu bekommen, weil beide wissen, dass das weiche Verfahren nicht hart und objektiv ist. Sollen wir es so weiter machen?
- Eine strenge und objektive Leistungsmessung ist nicht mehr Aufgabe der Lehrkräfte – die qualifizierende und selegierende Funktion der Schule wird personal getrennt. Das kann die Aggressionen gegen Lehrkräfte verringern. Es gibt diese unsäglichen Menschen, die verlangen, dass die Leistungsbeurteilung endlich wieder absolut streng und objektiv geschieht, das heißt durch standardisierte Verfahren, die der Schüler oder die Schülerin allein, ohne irgendwelche Hilfsmittel bestehen muss. Dann sieht das Ergebnis natürlich nicht mehr so aus wie heutige Abiturnoten, sondern wir werden – wie etwa noch in den sechziger Jahren – beste Abiturzeugnisse in einer Klasse mit der Durchschnittsnote 2,6 haben. Gleiches gilt für jedwede Uni-Abschlussnote.
Wenn man das macht, ist eine elektronische Leistungsmessung einmal oder zweimal im Schuljahr unerlässlich. Dann ist der Lehrer nicht mehr allein für die Noten zuständig. Die Leistungsprüfung, die standardisierte Beurteilung – für alle gleich, auch für alle Schulformen gleich – ersetzt den heute sehr menschelnden Sympathieprozess der Benotung und Notengebung. Ich weiß, dass das auch im Kreise der Philologen nicht sonderlich beliebt ist, aber diese Form der Notenfeststellung hätte den Vorteil, dass der Lehrer nicht mehr bestechlich sein könnte und deswegen auch Aggressionen gegen Lehrkräfte geringer würden, weil sie nur noch „Trainer“ sind. Diese Trennung von qualifizierender und selegierender Funktion ist übrigens nicht meine Idee, sondern hat eine lange pädagogische Vorgeschichte. Allerdings wird sie immer nur von Minderheiten geäußert.
Ein Mittel gegen die Gewalt gegen Lehrkräfte liegt also darin, dass man die Ursachen in der Leistungsfeststellung beseitigt. Die Lehrkraft wird damit zum Helfer für Schüler und Eltern. Beide müssen ein Interesse haben, dass man bei der Lehrkraft viel lernt, damit man einen solchen von außen kommenden und von außen kontrollierten Test bestehen kann. „Wie furchtbar“, sagen einige durch die dekadente Umwelt der Jetztzeit verdorbene Erwachsene. Das dürfen diese gerne sagen, aber ich sage: Jede Form von Inobjektivität in der Beurteilung von Schülern führt zu mehr Aggressionen gegen Lehrkräfte.
„Die Öffentlichkeit macht sich Illusionen über die Förderbarkeit von Kindern und Jugendlichen“
Die zweite Ursache, neben der Leistungsfeststellung, die zur Aggression im Schulsystem verführt, hängt eng mit der ursprünglichen Tätigkeit des Lehrers zusammen: Es ist die „Förderillusion“. Es ist der erzieherische Machbarkeitswahn. Hinz und Kunz und jeder Politiker und jeder, der ein bisschen über Schule und Unterricht nachdenkt, glaubt, dass man durch entsprechende Förderung jedes Kind zu einem Dr. Phil. oder Dr. rer. nat. machen könnte. Diese Förderillusion ist falsch – sie wird nur von jenen geteilt, die die Statistik der einschlägigen Untersuchungen nicht richtig verstehen können.
Ein Beispiel: Wenn das in der Schule nicht klappt, dann muss es eben im Kindergarten klappen – alle vier Jahre kommt irgendeine halbinformierte Person dazu, öffentlich eine stärkere Verschulung des Kindergartens zu fordern, obwohl man längst festgestellt hat, dass die Kinder bis zum „Five to seven years shift“ in anderer Form als Schulkinder lernen, nämlich durch eine strikte Individualisierung des Sprachenlernens, zum Beispiel im Handlungsvollzug. Stattdessen bietet man im Elementarbereich Gruppen an, in denen genau dieses nicht möglich ist. Man müsste also zum Beispiel in diesem Fall den Eltern sagen: „Nein, der Kindergarten kann die Sprachentwicklung nicht allein fördern. Für die Förderung eines Kindes ist immer eine individualisierte, also nicht öffentliche Förderung nötig und auch diese kann scheitern.“ Ich habe bereits 1984 die entsprechenden statistischen Überlegungen im Buch „Grenzen der Erziehung“ zusammengefasst, eine Debatte über die Grenzen, die schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der Pädagogik geführt wurden. Die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen werden oftmals falsch verstanden, weil die Fehlerquote oder der Ausschuss bei jeder Art von pädagogischer oder psychologischer Maßnahme schlicht und einfach geleugnet wird. You can’t always get what you want…
Wenn also die Eltern mit dem Leistungsstand ihrer Kinder nicht zufrieden sind, ist das für sie eine narzisstische Kränkung. Und sie suchen die Schuldigen natürlich außerhalb von sich selbst und vor allen Dingen außerhalb der Gene, die sie ihren Kindern mitgeben :-). Also suchen sie bei der Lehrkraft, die mit ihren Methoden versagt und „unser tolles Kind“ nicht entsprechend fördert. Der Boden ist bereitet für heftige Aggression.
Ich schreibe eigentlich mit dem altersbedingten Mut zur Verzweiflung: Die Öffentlichkeit macht sich Illusionen über die Förderbarkeit von Kindern und Jugendlichen, und sie verweigert sich einer strikten und genauen Leistungsfeststellung, weil sie dann eben genau das erleben würde – und ihre Kinder auch: Versagen vor Leistungsanforderungen, sein müssen, wie die anderen, anders sein, nicht so gut sein, Zweiter sein, Letzter sein, durchschnittlich sein etc. – massive Anlässe für Dysthymie und Aggression.
Und nun frage ich Sie: „Wird eins der beiden Probleme, die Gewalt erzeugen, gelöst werden?“ Natürlich nicht, weil wir eine Weltmacht mit drei Buchstaben („ICH“) sind und meine Kinder natürlich auch und wir wollen, dass sie ordentlich nach oben kommen, zu den Besten gehören und wenn das schon nicht geht, dann wollen wir wenigstens so tun, als seien sie die besten.
„Damit das funktioniert, muss man natürlich den gesamten Bereich der Notengebung verändern“
Der Abgrund von unreifer Lebenseinstellung, der sich hinter dieser narzisstischen Verletzlichkeit verbirgt, kann einen erschüttern. Vor allen Dingen erschüttert es, wenn man Kinder und Jugendliche, die in ihrem Alter andere Interessen als ausgerechnet Schule haben, zu den sogenannten Schulversagern zählt, wie diese dann aus der Liebe ihrer Eltern und ihrer Lehrer fallen und wie diese in der Öffentlichkeit diskriminiert werden – ja auch viel öfter als etwa Kinder aus anderen Nationen, wie ich früher gezeigt habe, weil für die augenblickliche deutsche Öffentlichkeit ohnehin nur der Schulabschluss und der Beruf zählen und nicht Religion und Nationalität.
Um den Zirkel der Argumentation zu schließen: Wer dafür sorgt, dass Schüler und Schülerinnen und Eltern eine narzisstische Kränkung erleben, wer durch Schule dafür sorgt, dass Lehrer nicht objektiv urteilen, muss auch mit Aggressionen gegen Lehrkräfte rechnen. Weil diese dann als Schuldige für ein Desaster wahrgenommen werden. Das kann man nur vermeiden, wenn klar ist, dass die Lehrkräfte an der Überprüfung der Leistungsfähigkeit, an den Noten, an den Versetzungen und an der Karriere schuldlos sind. Lehrer sind dann nur Trainer für das Bestehen objektiver Leistungsfeststellungen.
Und damit das funktioniert, muss man natürlich den gesamten Bereich der Notengebung verändern, und zwar nicht durch alternative Prüfungsformate, sondern durch eine „Mehrperspektivische schulische Diagnostik“, aber darüber wurde ja schon genügend geschrieben. Nur ein Wort: Selbstverständlich können darin weiche Informationen auch Bestandteile des Zeugnisses sein, aber immer nur zusätzlich zu den relevanten objektiven Testergebnissen, die ohne Hilfsmittel von den Schülern und Schülerinnen erbracht werden. Wir bleiben Menschenfreunde und strikt menschenfreundlich, aber wir sind auch leistungsfreundlich. Wir wissen, dass leistungsfähige Menschen für das Wohlergehen unseres Staates eminent wichtig sind. Und nicht nur welche mit Abi und Uni.
Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.
Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs. Dollase war Mitglied des Teams “Schule und Kultur” der nordrhein-westfälischen CDU im Vorfeld der Landtagswahl 2017.