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Der Protest rollt weiter: Warum die Initiative “Bildungswende jetzt!” noch lange nicht am Ende ist – eine Gegenrede

BERLIN. Der Initiative geht die Luft aus – schrieb Stefan Hemler, Lehrer und Bildungsaktivist, mit Blick auf das einst ambitioniert gestartete Bündnis „Bildungswende jetzt!“ (dem er selbst bis vor Kurzem angehörte). Hemler macht in seinem Gastbeitrag auf News4teachers dafür vor allem interne Gründe, nämlich „eine vorab festgezurrte Programmatik, Defizite in der Diskussionskultur und Intransparenz bei den Finanzen“ verantwortlich. Das mögen Verantwortliche der Initiative so nicht stehen lassen. Im Folgenden: die Gegenrede.

“Dezentrale Aktionen zur Bildungswende”: Demozug in Berlin am 1. Juni im Rahmen des Bildungsprotests 2024, Foto: Daniel Hellmich / Bildungswende jetzt!

Breites Bildungsbündnis notwendiger denn je!

Das Bündnis „Bildungswende JETZT!“ spricht alle Bildungsbetroffenen an: Schüler*innen, Beschäftigte und Eltern. Mittlerweile unterstützen über 200 Organisationen unsere Forderungen. Eine Klarstellung zu einem Gastbeitrag von Stefan Hemler (hier geht es hin).

„Unsere Gesellschaft erlebt eine der schwersten Bildungskrisen seit Gründung der Bundesrepublik.“ So beginnt der am 1. Juni 2023 veröffentlichte Appell „Bildungswende JETZT!“, um den sich unser gleichnamiges Bündnis gebildet hat.

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Leider trifft dieser Satz immer noch zu, das wird gerade beim Schulstart in vielen Bundesländern wieder deutlich: Lehrkräftemangel, fehlende Schulplätze, vermehrte Kündigungen, und in den Kitas ein dramatisch hohe Krankheitsausfälle. Die Bildungskrise betrifft viele von uns direkt: Schüler*innen, Lehrkräfte, Erzieher*innen, weitere Beschäftigte an Schulen und Kitas, Eltern, Großeltern und Lehramtsstudierende. Indirekt betrifft sie jeden, denn die zum Teil verheerenden Auswirkungen treffen uns als Gesellschaft, jede einzelne Person.

Alle Bildungsbetroffenen zusammenbringen

Das Besondere an „Bildungswende jetzt!“ ist unser Ansatz, verschiedene Gruppen von Bildungsbetroffenen zusammenzubringen. Wir sprechen Organisationen an, die sich dem Bündnis anschließen können. Wir laden direkt betroffene Eltern, Schüler*innen, Beschäftigte und Studierende ein, sich vor Ort oder bundesweit einzubringen. Alle diese Gruppen würden von einer Bildungswende profitieren. Auch unsere Gesellschaft als Ganzes würde von einem gerechteren, inklusiven und zukunftsfähigeren Bildungssystem profitieren. „Bildungswende jetzt!“ will genau dieses Ziel erreichen. Wir zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir junge Menschen so schlecht vorbereitet ins Post-Schulleben entlassen.

Wir sind auch ein  Protestbündnis und wir haben konstruktive Ideen. Wir haben vier zentrale Forderungen mit Unterpunkten vorgelegt, die die dringend benötigte Bildungswende einleiten sollen. Bei der Veröffentlichung des Appells am 1. Juni 2023 hatten sich knapp 100 Organisationen angeschlossen. Ein Jahr später sind es doppelt so viele.

Unser Ansatz, alle Bildungsbetroffenen zusammenzubringen, spiegelt sich in der Vielfalt der Gruppen wider, die sich dem Appell und dem Bündnis angeschlossen haben: Schüler*innenvertretungen, Elternvertretungen, Beschäftigtenvertretungen und Gewerkschaften, regionale und bundesweite Bildungsinitiativen, Gruppen aus dem Bereich der Klimabildung und Inklusion und insgesamt Gruppen aus dem Kita- und Schulbereich. Dass es dieses breite Bildungsbündnis gibt, ist ein beachtlicher Erfolg, hinter dem sehr viel ehrenamtliche Arbeit steht. Und dieses Bündnis zu stärken ist eine einmalige Chance.

Überparteiliches Bündnis

„Bildungswende jetzt!“ ist überparteilich, wir führen Gespräche mit Vertreter*innen aller im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien. Die Behauptung, dass wichtige Akteure wie Lehrerverbände von vornherein nicht einbezogen gewesen seien, stimmt in dieser Form nicht. Wir standen oder stehen mit Vertreter*innen von VBE, VRB und dem Philologenverband bezüglich der Bildungswende in Kontakt. Auch mit dem Bündnis „Neustart Bildung Jetzt“ stehen wir im Austausch. Zu den im Gastbeitrag vom 25. August erwähnten nicht zutreffenden Vorwürfen mangelnder Transparenz hat sich die gewählte Koordinierungsgruppe bereits vor Monaten ausführlich geäußert. Die Stellungnahme ist auf unserer Homepage nachzulesen.

2024: Rollender Bildungsprotest statt Großdemos

Bündnisarbeit erfordert viel Einsatz und Konflikte bleiben nicht aus, aber es lohnt sich. Im vergangenen Jahr sind wir fulminant gestartet. Beim bundesweiten Bildungsprotest im September 2023 gingen 25.000 Menschen an 30 verschiedenen Orten für eine Bildungswende auf die Straße. Das war der größte bundesweite Bildungsprotest seit 14 Jahren und ein großer Erfolg für unsere junge Bewegung. Wir haben auch Menschen erreicht, die zum ersten Mal überhaupt an einer Demo teilgenommen haben. Der Bildungsprotest 2024 verlief nach einem anderen Muster und sollte keine Kopie des Protests aus dem Vorjahr sein. Statt eines zunächst im Raum stehenden einzelnen Protesttages mit zehntausenden Teilnehmern am 8. Juni entschied sich das Bündnis für einen rollenden Bildungsprotest. Grund dafür waren geplante große Demokratieproteste am selben Tag, mit denen wir weder inhaltlich noch räumlich konkurrieren wollten.

Unter dem Titel „Bildung braucht Demokratie“ führten die Bundesländer zwischen dem 24. Mai und dem 20. Juni dezentrale Aktionen zur Bildungswende durch, darunter Demos und kreative Aktionen. In Duisburg und Köln durchbrachen Demo-Teilnehmer symbolisch die “Bildungsmisere-Wand”, in NRW beteiligten sich mehrere tausend Schüler*innen an einer Soli-Foto-Aktion und in Bayern rollte der Bildungswende-Ball durch mehrere Städte. Ziel dieser Aktionen war es, auf die Forderungen der Bildungswende aufmerksam zu machen und mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Bei den klassischen Demo-Formaten gab es erfolgreiche Aktionen wie in Berlin mit 3.000 Teilnehmer*innen und zahlenmäßig weniger erfolgreiche wie in Köln.

Ein zentrales Element und ein klarer Erfolg des Bildungsprotests 2024 war die Petition für eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte und Erzieher*innen sowie einen nationalen Bildungsgipfel. Mit dem Ziel von 100.000 gestartet, konnten wir am 20. Juni über 106.000 Unterschriften an die Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Boris Rhein (CDU) und Stephan Weil (SPD), übergeben.

Wir haben die MPK bewusst adressiert, da eine bundesweite Bildungskrise auch bundesweite Antworten braucht. Die Ministerpräsident*innen können sich nicht mit einem Verweis auf die Kultusministerkonferenz (KMK) aus der Verantwortung ziehen. Die Bildungskrise geht uns alle an, erst recht die Regierungschef*innen der Länder. Ein Ergebnis der Unterschriftenübergabe am 20. Juni ist ein Folgetermin mit den beiden MPK-Vorsitzenden voraussichtlich im September. Noch wichtiger: Über die Unterschriftensammlung sind wir mit vielen Menschen in Austausch gekommen, die sich künftig bei der Bildungswende einbringen wollen. Beziehungsarbeit kostet Zeit, Beziehungen wollen gepflegt werden. All das tun wir als Ehrenamtliche jeden Tag und müssen irritiert feststellen, dass es einige Personen gibt, die die Arbeit von Vielen diskreditieren und torpedieren wollen, anstatt in den  konstruktiven Austausch zu gehen bei der großen Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, immer mit dem Blick auf das Wesentliche gerichtet: eine gute Bildung für alle mit guten Arbeitsbedingungen für alle.

Mindestmaß an gegenseitiger Wertschätzung

Das Engagement der Vielen bildet das Rückgrat unseres Bündnisses, egal ob man sich mit viel oder wenig Zeit, in seinem Bundesland, bundesweit oder in einer AG einbringen möchte. Die Zusammenarbeit in großen Gruppen ist immer eine Herausforderung. Ein gesundes und produktives Engagement setzt gegenseitige Wertschätzung und ein Mindestmaß an respektvollem, achtsamen Umgang miteinander voraus. Deshalb haben die Aktiven von „Bildungswende JETZT!“ bei einem bundesweiten Plenum Verhaltensregeln, die im Gastbeitrag erwähnte „Chatiquette“, beschlossen. Ebenso haben sie beschlossen, wie die grobe Struktur des Bündnisses aussehen soll und dass es unter anderem ein gewähltes Sprecher*innenteam und eine gewählte Koordinierungsgruppe geben soll.

Die Ausgestaltung und Stoßrichtung des Bündnisses sowie die abgestimmten Verhaltensregeln sind das Ergebnis eines gemeinsamen Austauschs und einer mehrheitlichen demokratischen Abstimmung.

Es kam von verschiedenen Aktiven zu Beschwerden über Stefan Hemlers Verhalten u. a. in Chatgruppen. Die wiederholten Verstöße Herrn Hemlers gegen die gemeinsamen Kommunikationsregeln und eine E-Mail-Kampagne mit falschen Behauptungen, die er an viele Unterzeichner*innen adressierte, haben schlussendlich zu seinem Ausschluss aus dem Bündnis durch die gewählte Gruppe der Delegierten der Bundesländer – bei externer Moderation – geführt. Solche Vorgänge sind für alle Beteiligten unangenehm, aber in großen Bündnisgruppen leider nicht ungewöhnlich. Auf Rückfrage lässt Herr Hemler mitteilen, dass er den Grund für die Entscheidung zum Ausschluss – anders als die Delegiertengruppe – in seinen Nachfragen zur Bündnisfinanzierung sieht. Da unterliegt er jedoch augenscheinlich einem Irrtum: Nicht Nachfragen, sondern das wiederholte Fehlverhalten ist in der Bewegung nicht tragbar gewesen.

Bildungsbündnis dringend notwendig

Wir wollen uns mit voller Energie auf die bevorstehenden Aufgaben vorbereiten. Ein Bildungsbündnis, das in Selbstbeschäftigung versinkt oder in dem demokratisch getroffene Entscheidungen immer wieder untergraben werden, braucht niemand. Ein Bildungsbündnis, das allen Bildungsbetroffenen die Möglichkeit gibt, sich zusammenzuschließen, das Kita und Schule zusammen denkt und bundesweit auf die Bildungskrise aufmerksam macht, ist dringender notwendig denn je.

Über 50.000 junge Menschen verlassen jährlich die Schule ohne Abschluss, Tendenz steigend. Mangel wird verwaltet und Bildungsungerechtigkeit nimmt zu. Die (mentale) Gesundheit leidet und die Leistungen sinken.  Das ist geradezu paradox für ein Industrieland mit jahrelanger Schulpflicht, das auf gut gebildete Menschen und Fachkräfte angewiesen ist und nach Lösungen für eine gesellschaftliche Transformation vor dem Hintergrund des Klimawandels sucht.

Wir haben in den vergangenen Monaten tausende Stunden ehrenamtlicher Arbeit in den Aufbau dieser Bildungsbewegung gesteckt und werden das auch in Zukunft tun. Wir laden alle Bildungsbetroffenen und -interessierten ein, sich anzuschließen und einzubringen.

Wir wünschen allen einen guten Start ins Schul- und Kitajahr, trotz der widrigen Rahmenbedingungen. Dafür dass sich diese ändern, sollten wir gemeinsam kämpfen. In Schule und Kita und auf struktureller Ebene.

Autor*innen dieses Gastbeitrages: Sven Bechen, Philipp Dehne, Melanie Krause, Charlie Löbner, Markus Sänger, Janne Schmidmann, Stefan Schoo und Fabian Simion. Alle gehören zum Sprecher*innenteam oder zur Koordinierungsgruppe. Sie wurden vom bundesweitem Plenum der Bildungswende jetzt! in diese Positionen gewählt.

Eine vergebene Chance: Warum der Protestbewegung „Bildungswende jetzt!“ die Luft ausgegangen ist – ein Gastbeitrag

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