BERLIN. Die aktuelle TIMS-Studie, die Leistungen von Viertklässlern erfasst, hat bei ihrem Erscheinen in dieser Woche für vergleichsweise wenig Aufregung gesorgt. Tatsächlich sind die Ergebnisse im Schnitt nicht so katastrophal ausgefallen, wie zu befürchten war – ein weiteres Abrutschen ist ausgeblieben. Ein Punkt wird dabei allerdings außer Acht gelassen, wie unser Gastautor Roland Grüttner, ehemaliger Rektor einer Grund- und Mittelschule und einer Montessorischule in Bayern (er betreibt den Blog paedagokick.de), vermerkt: Die soziale Schere geht immer weiter auseinander.
Noch mehr Diskriminierung!
Dass in unseren Schulen Herkunftseffekte wirksam sind, die Kinder aus armen oder migrantischen Familien benachteiligen, ist seit langem bekannt (siehe Literaturliste). Die Ergebnisse der neuen TIMSS-Studie zeigen, dass dies in den vergangenen Jahren nicht besser geworden ist, im Gegenteil.
1 Rückblick auf TIMSS 2015
Aus den Ergebnissen der Studie von Wendt u.a. habe ich folgendes Diagramm herausgefiltert, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen:
Man erkennt: Die Gymnasialempfehlungen der Grundschul-Lehrkräfte richten sich zu einem unzulässig hohen Maß am familiären Hintergrund der Kinder aus.
Genauer:
Kinder aus der oberen Dienstklasse erhalten von den Lehrer:innen ab gemittelten 526 Kompetenzpunkten eine Empfehlung für den Besuch eines Gymnasiums. Kinder von un- oder angelernten Arbeiter:innen müssen 573 Punkte erreichen, ehe sie diese Empfehlung erhalten, also 8,9 Prozent mehr! Das spiegelt den so genannten „tertiären Herkunftseffekt“ wider, für den die Lehrkräfte verantwortlich sind: Wie es scheint, haben sie eine ihnen innewohnende Tendenz, ihren Schüler:innen bei gleicher Leistung nicht die gleiche Bildungs-Prognose zu geben.
Der „sekundäre Herkunftseffekt“ besteht darin, dass die an- und ungelernten Arbeiter-Eltern eine Gymnasialempfehlung für ihr Kind erst ab einem durchschnittlichen Kompetenzwert von 617 erwarten, während die Eltern der oberen Dienstklasse die gymnasiale Eignung schon ab 543 Punkten ausgesprochen haben wollen. Das ist ein Unterschied von 74 Punkten, also auf 543 bezogen von 13,6 Prozent! Offensichtlich trauen die ärmeren Eltern ihren Kindern trotz guter Leistung nicht so viel zu wie reichere Eltern den ihren.
2 Gegenwart: TIMSS 2023
Wie hat sich diese Situation weiterentwickelt? Diese Woche wurden die Ergebnisse der TIMSS-Runde 2023 veröffentlicht (News4teachers berichtete).
Schwippert, K., Kasper, D., Eickelmann, B., Goldhammer, F., Köller, O., Selter, C. & Steffensky, M. (2024). TIMSS 2023. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich: Waxmann Verlag GmbH.
Die darin zu findenden Ergebnisse (rote Säulen) habe ich mit denen von vor acht Jahren (blau) verglichen. Hier ist die entsprechende Gegenüberstellung:
Die Tendenzen bei den Eltern verlaufen parallel: Alle erwarten eine Gymnasialempfehlung bei vergleichsweise geringeren Kompetenzwerten ihrer Kinder. Die Schwellenwerte sind 2023 gegenüber 2015 um 6,4 Prozent in der oberen Dienstklasse und um 6,8 Prozent bei den un- und angelernten Arbeitereltern gesunken.
Augenfälliger sind die Empfehlungen der Lehrkräfte: Während – wie oben gezeigt – die Kinder von un- und angelernten Arbeiter:innen in TIMSS 2015 noch 8,9 Prozent mehr Kompetenzpunkte erreichen mussten, ehe die Lehrkräfte sich für einen Besuch des Gymnasiums aussprachen, sind es jetzt 134 Punkte, umgerechnet 26,2 Prozent, berechnet als Differenz von 646 und 512 Kompetenzpunkten bezogen auf den Wert 512.
3 Was geschieht da?
Wir erleben eine durch drei Effekte hervorgerufene ungerechte Aufteilung der Schülerschaft in der 4. Jahrgangsstufe:
3.1 Primäre Herkunftseffekte
Die Kinder gleicher Intelligenz werden durch ihre Eltern in der oberen Dienstklasse mehr gefördert als die Kinder „einfacher“ Eltern, so dass sie in der Schule auch bessere Leistungen zeigen können. Das ist von der Elternseite her auch völlig in Ordnung so, denn warum sollte der sein Kind nicht nach Kräften fördern, der dazu in der Lage ist? Problematisch ist die öffentliche Seite, nämlich dass Kindergarten und Schule den Mangel an familiärer Förderung bei den anderen Kindern nicht ausgleichen und die Schereneffekte nicht verhindern können.
3.2 Sekundäre Herkunftseffekte
Die einen Eltern sehen ihr Kind bei vergleichsweise geringeren Leistungen schon auf dem Gymnasium. Die anderen Eltern wollen relativ mehr Leistung sehen, ehe sie für ihr Kind diese schulische Laufbahn in Betracht ziehen. Das ist einerseits eine Folge familiärer Traditionen und andererseits der Beratung durch die Lehrkräfte an den Grundschulen.
3.3 Tertiäre Herkunftseffekte
Das Problem ist, dass die Lehrer:innen, die für die Laufbahnempfehlung verantwortlich sind, dabei nicht ausschließlich nach Leistung gehen, sondern nach Herkunft. Und dass sich diese Haltung verschärft hat – von circa neun Prozent Unterschied auf gut 26 Prozent.
Die Diskriminierung hat sich also verschärft. Warum kann das nicht hingenommen werden?
Weil wir in der Gesellschaft eine ungleiche Chancenverteilung haben, die in der Schule nicht nur nicht ausgeglichen, sondern durch die Laufbahnempfehlungen der Lehrer:innen auch noch zementiert wird! Man kann es auch so formulieren:
„Kind, deine Herkunft aus der Arbeiterklasse sorgt dafür, dass du
- in der Familie weniger gefördert wirst,
- das in Kindergarten und Schule auch nicht ausgleichen kannst,
- dadurch insgesamt in der Grundschule weniger leistest als ein gleich intelligentes Kind aus der oberen Dienstklasse,
- und zusätzlich benachteiligt wirst durch deine Lehrer:innen, indem sie von dir viel mehr Leistung sehen wollen, um dich für ein Gymnasium zu empfehlen, als von den Kindern reicher Eltern.“
Damit werden gesellschaftliche Unterschiede in der Schule zementiert. Was nicht der Fall sein sollte! Spricht etwas dagegen, hier den Artikel 3 (3) GG zu zitieren?
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Diese Benachteiligung aufgrund der (familiären) Herkunft ist seit vielen Jahren breit nachgewiesen und durch die neue TIMSS-Studie wieder bestätigt worden. Das macht das Problem der Diskriminierung noch deutlicher.
4 Was tun?
Es handelt sich bei diesem Empfehlungs-Missstand teils um bewusste, teils um unbewusste Prozesse.
Bewusst sind diese für wirtschaftlich schwache Kinder, weil die Lehrer:innen es gut meinen (ja: „meinen“!), weil sie davon ausgehen, dass diese Jungen und Mädchen von ihrer Familie weniger Unterstützung erfahren können als die anderen – dass also diese Eltern weniger selbst bei den Hausaufgaben helfen oder sich Nachhilfe leisten können als die wohlhabenderen Familien.
Das ist aber im Endeffekt so etwas wie vorauseilende Fürsorge, die sich zum Schaden für die Kinder auswirkt. Die einen Kinder verpassen Chancen, die die anderen erhalten, aber nicht aufgrund der Leistung. Und „Chancen“ bedeutet in der Folge auch berufliche Möglichkeiten und die Stellung in der Gesellschaft.
Unbewusst sind diese Laufbahn-Entscheidungen in den Lehrerköpfen, weil sie (nach Bourdieu) „habituell“ auf ihre Schüler:innen reagieren. Diese Sichtweise habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt.
5 „No teacher left behind!“
Das ist nicht mein Motto, sondern das von John Hattie in What works best in education (Seite 2). Die Lehrer:innen müssen in doppelter Weise weitergebildet – oder höflicher: sensibilisiert – werden.
Auf der einen Seite muss ihnen gezeigt werden, dass es ihnen nicht zusteht, bei der Laufbahnempfehlung für Kinder aus einfachen Familien zurückhaltend zu sein, weil es denen mehr schadet als nutzt. Und auf der anderen Seite muss ihnen bewusst gemacht werden, dass es in ihren Köpfen wissenschaftlich wahrnehmbare Prozesse gibt, die ihnen selbst unbewusst sind und die sich zum Schaden für bestimmte Kinder auswirken – und zur leistungsfremden Bevorzugung der Kinder aus der oberen Dienstklasse.
Ist das Lehrerbashing?
Diese Frage stellt sich für mich nicht. Die Lehrer:innen, die ich kenne, haben fast alle das große Bedürfnis, den ihnen anvertrauen Kindern gerecht zu werden. Sie würden diese Hinweise sicher aufmerksam aufnehmen und achtungsvoller mit ihren Kindern umgehen.
6 Tabellen aus den TIMSS-Studien
Damit sich die Interessierten selbst ein Bild von den genauen und ausführlicheren Werten machen können, die auch noch die Ergebnisse in den Naturwissenschaften umfassen, hier die beiden Tabellen aus den Originalpublikationen:
News4teachers
Hier lässt sich der Beitrag als PDF mit Literaturverzeichnis herunterladen.
Philologen nehmen TIMSS zum Anlass, “verbindliche Übergangsempfehlung” zu fordern