KÖLN. Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen in bildungsfernen Haushalten auf – ein Problem, das durch den demografischen Wandel und den steigenden Fachkräftebedarf besonders brisant wird. Laut einer neuen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) haben sich die Bildungsungleichheiten verschärft, was die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit des Landes gefährdet. Dabei könnten gezielte Fördermaßnahmen und eine stärkere Sensibilisierung der Eltern die Chancen der betroffenen Kinder entscheidend verbessern.
„Mit dem Voranschreiten des demografischen Wandels wird es für die Sicherung von Wachstum und Wohlstand immer wichtiger, dass sich alle Kinder in Deutschland möglichst gut entwickeln. Sie sind es nämlich, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes bei einer rückläufigen Erwerbspersonenbasis erhalten und für die Versorgung einer zunehmenden Anzahl älterer Menschen aufkommen müssen“, so heißt es in der Studie zum Hintergrund.
„Dafür ist insbesondere auch eine profunde Ausbildung notwendig. Dabei ist der Anteil der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss an den 25- bis 34-Jährigen zwischen den Jahren 2013 und 2023 von 29,9 Prozent auf 38,4 Prozent gestiegen. Gleichzeitig hat allerdings auch der Anteil der Niedrigqualifizierten in dieser Altersgruppe von 12,9 Prozent auf 16,7 Prozent zugenommen – was nicht nur eine Folge der starken Zuwanderung ist, da bei den im Inland geborenen Personen ebenfalls ein Anstieg von 9,3 Prozent auf 11,3 Prozent zu verzeichnen war.“
Auch wiesen Vergleichstests wie die PISA-Studien darauf hin, dass das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler in Deutschland sinken und immer mehr von ihnen nicht über altersgemäß erwartbare Fähigkeiten verfügen. „Dies dürfte zur Folge haben, dass in Zukunft noch mehr junge Menschen ihren Bildungsweg nicht erfolgreich abschließen werden“, so schreibt der Autor Wido Geis-Thöne. Zumal seit Erscheinen der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 „kein Zweifel mehr daran besteht, dass der Bildungserfolg maßgeblich vom elterlichen Hintergrund abhängt und diese Zusammenhänge in Deutschland stärker sind als in anderen hochentwickelten Ländern.“
Deshalb ist der nun vorgelegte Befund so problematisch: In den letzten Jahren wachsen immer mehr Kinder in Deutschland in bildungsfernen Milieus auf. So ist der Anteil der Minderjährigen mit Eltern ohne berufsqualifizierenden Abschluss einer Auswertung des Mikrozensus durch den IW zufolge zwischen den Jahren 2011 und 2021 von 11,4 Prozent auf 17,6 Prozent gestiegen – also um knapp zwei Drittel. Danach waren im Jahr 2021 insgesamt 2,44 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland als bildungsfern zu werten. Zehn Jahre zuvor waren es lediglich 1,49 Millionen.
„Bei vielen dieser bildungsfernen Kinder bestehen noch weitere Risikofaktoren für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn, wie Fremdsprachigkeit und Arbeitsmarktferne der Eltern”
Mehr als jedes zwanzigste Kind gehört inzwischen der besonders vulnerablen Gruppe der Kinder mit Eltern ohne Schulabschluss an. Deren Anzahl ist zwischen den Jahren 2011 und 2021 um 67,6 Prozent von 456.000 auf 765.000 gestiegen, womit ihr Anteil von 3,5 Prozent auf 5,5 Prozent zugenommen hat. Allerdings ist die Lage regional sehr unterschiedlich. Besonders hoch sind die Anteile in den Großstädten in Nordrhein-Westfalen und eher niedrig in den kleineren Kommunen mit weniger als 20.000 Einwohnern in den neuen Bundesländern und in Bayern.
„Bei vielen dieser bildungsfernen Kinder bestehen noch weitere Risikofaktoren für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn, wie Fremdsprachigkeit und Arbeitsmarktferne der Eltern. Im Ergebnis besuchen sie nicht nur wesentlich seltener in der Sekundarstufe I ein Gymnasium. Sie sind im Alter von 15 bis 17 Jahren auch weit häufiger übergewichtig als die nicht bildungsfernen Kinder“, berichtet Geis-Thöne. Die betroffenen Kinder benötigten (nicht nur im Bildungsbereich) eine gezielte kompensatorische Förderung, die möglichst direkt in ihrem Lebensumfeld angesiedelt sein sollte. Allerdings besuchten im Jahr 2021 den Angaben im Mikrozensus zufolge nur 17,1 Prozent der bildungsfernen unter Dreijährigen und 73,4 Prozent der bildungsfernen Drei- bis Fünfjährigen eine Kita, im Vergleich zu 29,6 Prozent und 87,5 Prozent der nicht bildungsfernen Kinder in diesem Alter.
Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg entkoppeln? Besonders günstig sei die Lage zum Beispiel in Dänemark und Kanada, die beide über ein starkes Vorschulsystem verfügen, ein klassisches Ganztagsschulmodell mit über den Tag verteilten Lernzeiten betreiben und ein langes gemeinsames Lernen mit wenig Wahlmöglichkeiten für die Eltern vorsehen, so heißt es. „Auch ohne einen grundlegenden Systemwechsel in diese Richtung dürften sich in Deutschland wesentliche Verbesserungen erzielen lassen. Hilfreich wäre dabei vor allem eine Stärkung der kompensatorischen Bildungsarbeit an Kitas und Schulen, für die Einrichtungen mit besonders hohen Anteilen förderbedürftiger Kinder zusätzliche personelle Ressourcen benötigen.“
Weiter schreiben die Autorinnen und Autoren: „Möchte man die Lage der bildungsfernen Kinder in Deutschland nachhaltig verbessern, muss man zunächst sicherstellen, dass sie von kompensatorischen Angeboten erreicht werden können. Dazu ist eine intensive Sensibilisierung der Eltern für die Bedeutung der institutionellen Betreuung notwendig, sofern man nicht wie andere Länder eine Kindergarten- oder Vorschulpflicht einführen möchte. Hier müssen Angebote kontinuierlich weiterentwickelt werden, um bestmöglich den jeweiligen (Kompensations-)Bedarfen der Kinder gerecht zu werden.“ Gleiches gelte auch für die Schulen.
„Besonders groß sind die Handlungsbedarfe dabei in Einrichtungen, die von sehr vielen Kindern aus ungünstigen familiären Kontexten besucht werden. Daher sollten diese mit zusätzlichen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet werden. Am besten kann dies über eine Zuweisung anhand eines Sozialindexes realisiert werden. Hilfreich ist aber auch eine gezielte Förderung besonders betroffener Einrichtungen.“
Immerhin, die soll es tatsächlich bald geben: Das Startchancen-Programm, das bundesweit 4.000 Schulen in sozial herausfordernden Lagen in den nächsten zehn Jahren mit insgesamt 20 Milliardeen unterstützen soll, ist mit Schuljahresbeginn angelaufen – wird von den Lehrergewerkschaften aber angesichts der wachsenden Herausforderungen als viel zu klein kritisiert (News4teachers berichtete). News4teachers
Hier geht es zur vollständigen Studie.