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“Der Lehrplan sollte ein Instrument sein, kein Ziel“: PISA-Chef Schleicher über mehr Freiheit für die Schulen

BONN. Deutschland, angeblich das Land der Denker und Dichter, fällt in internationalen Bildungsvergleichen oft nur durch mittelprächtige Ergebnisse auf. Die regelmäßig erhobene PISA-Studie zeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler abgehängt werden, während Bildungssysteme in anderen Ländern erfolgreicher abschneiden. Warum das so ist und was sich ändern muss, diskutieren der für die Studie verantwortliche OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, bekannt als „Mr. PISA“, und der 17-jährige Schüler Sebastian Liess aus München – Mitglied des Bürgerrats Bildung und Lernen – im Bürgerrats-Podcast „Bildung Bitte“ auf News4teachers. Titel der Folge: „Wie viel Freiheit braucht das Lernen“.

„Wenn man wirklich in Projekte eintauchen kann, bei denen man motiviert ist, ist Schule etwas ganz anderes.“ Illustration: Shutterstock

Moderator Andreas Bursche, bekannt vom WDR, beginnt mit einem Blick auf die deutschen PISA-Ergebnisse. Seine Kritik: „Deutschland dümpelt bildungstechnisch im Mittelfeld. Das ist mutig für ein Land, das auf flinke Köpfe angewiesen ist.“ Andreas Schleicher, der seit 25 Jahren die PISA-Studie verantwortet, stimmt zu. Doch er möchte nicht pauschal kritisieren. „Es sind nicht alle, die schwächeln. Aber wir haben eine Gruppe von Schülern, die systematisch abgehängt wird“, sagt er und betont, dass diese Schieflage ein entscheidender Unterschied zu den erfolgreicheren Bildungssystemen sei. Dort gehe man grundsätzlich davon aus, dass jeder Schüler lernen kann – und auch die Chance dazu erhält.

Schleicher weiß, wovon er spricht. Er selbst hat die Schwächen des deutschen Schulsystems erlebt. Als Jugendlicher wechselte er von einem Gymnasium auf eine Waldorfschule, wo er sein Abitur mit der Traumnote 1,0 ablegte. „Ich hatte die Schwierigkeiten am Anfang meiner Schulzeit“, erinnert er sich. Diese Erfahrungen prägen bis heute seine Haltung: Ein Bildungssystem muss individuell fördern können.

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Sebastian Liess, 17 Jahre alt, berichtet aus erster Hand über den Stress, den der schulische Alltag in Deutschland mit sich bringt. Eine für ihn typische Woche: Montag eine Deutschpräsentation, Dienstag ein Lernvideo für Physik, Mittwoch ein Podcastprojekt in Wirtschaft und Recht. Donnerstag und Freitag folgen Klausuren. „Am Freitagnachmittag dachte ich nur: ‘Okay, ich gehe jetzt ins Bett. Ich habe keine Lust mehr.“

Das eigentliche Problem sieht Sebastian jedoch nicht nur im Umfang der Aufgaben, sondern in der Art des Lernens: „Nach der Schule muss man sich noch mal zwei, drei, vier Stunden hinsetzen. Es bleibt keine Zeit für einen selbst.“ Er kritisiert die fehlende Tiefe: „Man hetzt durch Themen, ohne wirklich in etwas eintauchen zu können, das einen interessiert.“

Andreas Schleicher hält dagegen: „Es ist nicht so, dass Schule in Deutschland anspruchsvoller ist als anderswo. Der Stress kommt häufig daher, dass Schüler nicht die treibende Kraft ihres Lernens sind.“ Wenn Schülerinnen und Schüler verstehen, warum sie etwas lernen, und dabei eigene Ziele setzen können, empfinde man die Anstrengung anders. „Das große Problem in Deutschland ist der stark vorgegebene Lehrplan, der oft nur oberflächlich abgearbeitet wird – ein Kilometer lang, aber nur einen Zentimeter tief.“

„Eine gute Schule hilft jungen Menschen, herauszufinden, warum sie auf diesem Planeten sind. Was begeistert sie? Welchen Beitrag wollen sie leisten?“

Das Gespräch dreht sich um die Frage, wie Bildungssysteme strukturiert sein müssen, damit Lernen Freude bereitet. Journalist Bursche fragt provokant: „Wenn jeder nur das lernt, was ihm Spaß macht, was passiert dann später im Beruf, wo man sich auch durch Aufgaben kämpfen muss, die keinen Spaß machen?“ Schleicher entgegnet, dass es zunächst darum gehen müsse, Begeisterung und Eigenmotivation zu fördern. „Eine gute Schule hilft jungen Menschen, herauszufinden, warum sie auf diesem Planeten sind. Was begeistert sie? Welchen Beitrag wollen sie leisten?“

Sebastian stimmt zu: „Wenn man an einem Thema Spaß hat, arbeitet man ganz anders daran.“ Doch wie könnte eine Schule aussehen, die dies ermöglicht? Schleicher beschreibt Ansätze wie projektbasiertes Lernen: „Schüler sollten eigene Ziele stecken und sich überlegen, welche Projekte sie verfolgen wollen – auch über Fächergrenzen hinweg.“ Die Rolle der Lehrkraft verändere sich dabei fundamental: „Ein guter Lehrer ist heute mehr Coach, Mentor und Designer von innovativen Lernumgebungen als reiner Wissensvermittler.“

Auf die Frage nach den besten Bildungssystemen nennt Schleicher Beispiele aus Dänemark, Finnland und Estland. „In Dänemark sind Schulen eng mit der Gemeinde vernetzt. Es gibt ein starkes Miteinander.“ Noch weiter nördlich, in Finnland und Estland, treffe jede Schule neun von zehn Entscheidungen selbst. „In Deutschland sind es nur 17 Prozent“, kritisiert Schleicher. Er betont, wie wichtig es sei, Schulen mehr Verantwortung zu geben.

Auch das asiatische Bildungssystem hat Vorzüge. „Dort verbringen Lehrkräfte mehr Zeit mit einzelnen Schülern außerhalb des Klassenverbands. Sie wissen genau, wer ihre Schüler sind, und begleiten sie individuell.“ Selbst Bhutan, ein kleines Land im Himalaya, beeindruckt Schleicher: „Dort steht das Wohlbefinden im Mittelpunkt. Schule ist ein Ort, an dem es um die persönliche Entwicklung geht, nicht nur um kognitive Leistungen.“

Das Gespräch mündet in einen Appell an die deutsche Bildungspolitik: Weniger Fokus auf standardisierte Lehrpläne und mehr Freiräume für individuelle Entwicklung. „Wir brauchen Schulen, die Schüler motivieren, eigenständig zu lernen, und Lehrkräfte, die dabei als Coaches und Mentoren begleiten“, so Schleicher. Sebastian wünscht sich, dass Schüler mehr Mitspracherecht bekommen: „Wenn man wirklich in Projekte eintauchen kann, bei denen man motiviert ist, ist Schule etwas ganz anderes.“

Aber daran hakt es in der Praxis eben allzu oft. „Warum muss überall ein Riegel vorgeschoben werden?“ Mit dieser Frage artikuliert Sebastian den Frust vieler Schüler und Lehrer. „Unsere Schulleitung versucht viel, um uns Freiräume zu schaffen, aber oft sind ihr die Hände gebunden. Es ist schade, denn es gibt so viele Ideen, die an einzelne Schulen angepasst werden könnten.“ Die Kernbotschaft von Sebastian ist klar: Nicht jeder Fortschritt muss zentral geplant werden. Schulleitungen und Lehrkräfte wissen oft selbst am besten, was für ihre Schüler funktioniert.

Moderator Andreas Bursche hakt ein: „Sind es also die Kultusministerien, die den Fortschritt blockieren?“ Andreas Schleicher bestätigt, dass dieser Eindruck nicht unbegründet ist: „In Deutschland werden oft vorhandene Freiräume nicht genutzt, weil es unbequem ist, selbst Verantwortung zu übernehmen.“ Als Beispiel nennt Schleicher eine Schulleiterin aus Shanghai, die ihre Schule in einer bürokratischen Grauzone innovativ gestaltet. „In Deutschland wird der bequeme Weg gegangen. Viele halten sich lieber stur an Vorgaben, statt eigene Ideen zu entwickeln.“

„Diese Schüler haben echte Probleme gelöst, anstatt nur abstrakte Aufgaben zu bearbeiten. Und sie haben dabei mehr gelernt als im klassischen Unterricht“

Sebastian sieht hier die Wurzel des Problems: „Wenn wir Schüler und Lehrer mehr in Entscheidungen einbeziehen würden, hätten wir authentischere Lernumgebungen. Unsere Schulleitung hat uns zugehört, als wir Ideen aus dem Bürgerrat präsentiert haben, aber viele Vorschläge können sie nicht umsetzen. Dabei wollen wir doch alle: Schüler, Lehrer und Schulleitung.“

Schleicher gibt im Podcast Einblicke in Bildungsprojekte weltweit. In Shanghai lernen Schüler Englisch, indem sie Touristen an U-Bahn-Stationen helfen. „Das ist praxisnaher Unterricht, der gleichzeitig soziale Kompetenzen stärkt“, erklärt er. Auch ein Projekt in Guatemala hat ihn beeindruckt: Dort entwickelten Schüler aus den USA und Guatemala gemeinsam Prothesen mit 3D-Druckern. „Diese Schüler haben echte Probleme gelöst, anstatt nur abstrakte Aufgaben zu bearbeiten. Und sie haben dabei mehr gelernt als im klassischen Unterricht.“

Solche Projekte zeigen, wie sinnvoll eine Öffnung der Schulen sein kann. „Es geht darum, Lernziele mit echten Herausforderungen zu verknüpfen“, so Schleicher. „Ein Beispiel aus Portugal zeigt, wie es gehen kann: Dort bekamen Schüler ein kleines Budget, um Projekte zu finanzieren. Anfangs wurde damit Unsinn gemacht, aber bald entstanden nachhaltige Ideen.“

Der Moderator bringt es auf den Punkt: „Es klingt nicht nach Raketenwissenschaft, sondern nach Machen.“ Schleicher stimmt zu: „Die Politik muss den Rahmen schaffen, aber die Veränderung beginnt vor Ort. Wenn Lehrer und Schulleitungen Verantwortung übernehmen, entsteht echte Innovation. Der Lehrplan sollte ein Instrument sein, kein Ziel.“ News4teachers

Hintergrund

Der Bürgerrat Bildung und Lernen besteht aus mehr als 700 zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland und wurde 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufen. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt.

Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutieren die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?

Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde unlängst erarbeitet (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“

Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche einbezieht. Die mehr als 250 Schülerinnen und Schüler kommen über sogenannte Schulwerkstätten der Bundesländer dazu und sind vollwertige Mitglieder des Bürgerrats Bildung Lernen. Darüber hinaus haben sie aber auch eigene Empfehlungen entwickelt sowie einen offenen Brief unter dem Titel „Hört und zu!“ geschrieben.

www.buergerrat-bildung-lernen.de

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