Website-Icon News4teachers

Studie: Lehrkräfte benachteiligen Kinder mit Migrationshintergrund bei der Notenvergabe nicht – im Gegenteil

DUISBURG/ESSEN. Kinder aus eingewanderten Familien erfahren in deutschen Schulen keine systematische Benachteiligung durch Lehrkräfte – jedenfalls nicht durch Noten. Dies zeigt eine aktuelle Studie. Demnach werden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sogar häufig bevorzugt. „Kinder mit Migrationshintergrund erhalten von den Lehrkräften tendenziell bessere Noten, als es ihre Leistungen in anonym bewerteten, standardisierten Tests vermuten lassen würden“, erklärt die Studienleiterin Julia Bredtmann, Bildungsökonomin am RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professorin an der Universität Duisburg-Essen gegenüber dem „Spiegel“.

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund werden nicht schlechter benotet (Symbolfoto). Foto: Shutterstock

Obwohl Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Durchschnitt schlechtere Noten bekommen als Schülerinnen und Schüler aus deutschstämmigen Familien, fanden sich keine Hinweise auf eine Diskriminierung bei der Notenvergabe – im Gegenteil: Die Analyse ergab, dass Lehrkräfte Schüler mit Migrationshintergrund oft besser bewerten, als es die Ergebnisse standardisierter Tests nahelegen.

Laut Bredtmann könnte dies darauf zurückzuführen sein, dass Lehrkräfte unbewusst versuchen, soziale Nachteile durch positivere Noten auszugleichen. „Diese Tendenz zeigt sich nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch bei Kindern aus sogenannten bildungsfernen Haushalten“, so Bredtmann. „Was wir außerdem zeigen konnten: Wenn Lehrkräfte in Klassen mit überdurchschnittlich vielen leistungsschwachen oder sozial benachteiligten Schulkindern unterrichten, zeigen sie eine besonders ausgeprägte Tendenz, Kinder mit Migrationshintergrund besser zu bewerten.“ Und: „Unsere Ergebnisse zeigen zudem, dass die positive Bewertungsverzerrung besonders stark bei Schülern türkischer Herkunft ist.“

Anzeige

„Es bleibt erst einmal offen, ob diese gut gemeinten Praktiken wirklich den Bildungserfolg verbessern“

Eine wesentliche Einschränkung gibt es bei dem Befund allerdings. „Wir finden jedoch keine Hinweise darauf, dass (…) Lehrkräfte Minderheitenschüler über die Bestehensgrenze hinaus fördern“, so heißt es in der Studie. „Vielmehr deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die positive Bewertungsverzerrung bei den höheren Noten stärker ausgeprägt ist. Insgesamt legen unsere Ergebnisse nahe, dass Lehrkräfte ihre Bewertungsstandards anpassen, um anfängliche Nachteile auszugleichen, und dass ein solches Verhalten in erster Linie auf leistungsstarke Minderheitenschüler in Klassen mit hohen Anteilen benachteiligter Schüler abzielt.“

Dass die Ergebnisse von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund trotzdem im Mittel schlechter ausfallen, lasse sich durch andere Faktoren (als durch Diskriminierung) erklären – nämlich: „auf den durchschnittlich niedrigeren sozioökonomischen Status von Einwandererfamilien – Stichwort Armut. Und auch andere migrationsspezifische Faktoren wie Sprachkompetenzen spielen eine Rolle“, so erklärt die Wissenschaftlerin.

Trotz der positiven Absichten werfen die Studienergebnisse auch Fragen auf. Bredtmann betont: „Es bleibt erst einmal offen, ob diese gut gemeinten Praktiken wirklich den Bildungserfolg verbessern.“ Eine mögliche Gefahr bestehe darin, dass die positiven Bewertungen aus niedrigen Erwartungen der Lehrkräfte resultieren könnten. „Wenn Kinder spüren, dass weniger von ihnen erwartet wird, könnten sie mit ihren Leistungen unter ihren Möglichkeiten bleiben – gewissermaßen als sich selbst erfüllende Prophezeiung“, meint Bredtmann.

Um solche Risiken zu minimieren, sollten Lehrkräfte für die Auswirkungen verzerrter Leistungsbewertungen sensibilisiert werden. „Die Lehrerinnen und Lehrer sollten wissen, wie sich ihre Bewertungsstandards auf die Schüler auswirken können.“ Bredtmann betont jedoch, dass der größere Hebel bei systemischen Änderungen liegt. „Wer Bildungsungleichheit effektiv reduzieren will, sollte sich auf strukturelle und soziale Faktoren konzentrieren“, schlussfolgert sie.

„Kinder aus Akademikerfamilien bekommen eher eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien“

Die Einschränkungen, dass nur bessere Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von einer großzügigeren Notenvergabe profitieren und dass „Bestehensgrenzen“ dabei nicht überschritten werden, macht das Ergebnis dann doch plausibel – angesichts bisheriger Befunde, dass „in Deutschland sozial-selektive Bildungsempfehlungen gegeben“ werden, sie der Soziologe Jörg Dollmann bereits vor vier Jahren gegenüber dem Deutschen Schulportal erklärte. „Es ist ein relativ gut belegbarer Befund, dass bei gleichen schulischen Leistungen Kinder aus Familien mit einem stärkeren Bildungshintergrund eher eine Empfehlung für eine höhere Schulart bekommen als Kinder aus weniger gebildeten Elternhäusern. Kinder aus Akademikerfamilien bekommen eher eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien.“

Auch schon damals war klar, dass nicht der Migrationshintergrund dabei entscheidend ist. Dollmann: „Vergleicht man bei gleichen schulischen Leistungen die Bildungsempfehlungen für Migrantenkinder mit den Empfehlungen für Kinder ohne Migrationshintergrund, fallen sie schlechter aus. Das liegt aber vor allem daran, dass die meisten Migrantenkinder aus sozial schwächeren Elternhäusern kommen. Wenn man allerdings den sozialen Hintergrund des Elternhauses ‚herausrechnet‘, zeigen sich keine Unterschiede. Lehrkräfte diskriminieren also nicht ethnisch, sondern sie diskriminieren sozial. Das heißt, Migrantenkinder haben keinen zusätzlichen Nachteil nur aufgrund ihrer ethnischen Herkunft.“

Warum fallen die Empfehlungen bei Kindern aus sozial schwächeren Elternhäusern schlechter aus? Bei Kindern aus einer niedrigeren sozialen Schicht nehmen viele Lehrkräfte eine ungünstigere Leistungsentwicklung an“, antwortet Dollmann. „Dabei spielen möglicherweise auch die Unterstützungsmöglichkeiten in den Familien eine Rolle. Die Überlegung der Lehrkräfte könnte dabei sein: Wenn es mal nicht so gut in der Schule läuft, bekommt ein Kind aus einer Akademikerfamilie eher Unterstützung als ein Kind aus einer bildungsferneren Familie.“ Darüber hinaus könne möglicherweise der Druck, den akademisch gebildete Eltern auf Lehrkräfte ausüben, eine Rolle spielen. News4teachers

Hier geht es zur Studie „Discrimination in Grading? Evidence on Teachers’ Evaluation Bias Towards Minority Students”.

TIMS-Studie: Kinder aus armen Familien werden immer krasser benachteiligt!

Die mobile Version verlassen