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Biko 2025: Alarmstufe Rot für die Bildung – Warum Deutschland seine Kinder vergisst

HEILBRONN. Wie kindgerecht ist Deutschland wirklich? Laut Politikwissenschaftler Prof. Sebastian Kurtenbach: kaum. Bei der Biko 2025 schlug er Alarm – und zeigte auf, wie eine alternde Gesellschaft die Interessen von Kindern und Jugendlichen zunehmend ignoriert. Statt Investitionen in Bildung landen Milliarden im Rentensystem, während jedes Jahr Zehntausende Jugendliche ohne Abschluss zurückbleiben. Doch Kurtenbach und andere Experten hatten nicht nur düstere Diagnosen im Gepäck – sondern auch Lösungen.

Deutschland hat ein Demografieproblem. Illustration: Shutterstock

Eine Warnung vorab: Es sei kein „Gute-Laune-Thema“, das er hier vorzubringen habe, so erklärte Prof. Sebastian Kurtenbach, Politikwissenschaftler von der FH Münster. Tatsächlich geht es ans Eingemachte einer um ihre Zukunftsfähigkeit ringenden Gesellschaft, was er (in Vertretung des erkrankten Star-Soziologen Prof. Aladin El-Mafaalani) dem Publikum präsentierte.

Kurtenbach, El-Mafaalani und der Bochumer Soziologe Prof. Klaus-Peter Strohmeier haben gemeinsam eine Analyse verfasst (Buchtitel: „Kinder – Minderheit ohne Schutz“), die seit Wochen für Schlagzeilen hierzulande sorgt. Kernthese: In einer drastisch alternden Bürgerschaft rücken die Interessen von Kindern und Jugendlichen – und damit die Bildung – zunehmend an den Rand. „Deutschland ist weder kindgerecht noch gerecht zu Kindern“, postulierte Kurtenbach. Um, Achtung: Spoiler, am Ende seines Vortrages doch nicht so trostlos zu landen wie angekündigt.

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Kurtenbach war einer von insgesamt knapp 100 Referentinnen und Referenten, die bei der Biko 2025, der Bildungskonferenz der gemeinnützigen, vor allem in der Schulleitungsfortbildung engagierten Akademie für Innovative Bildung und Management (aim) in Heilbronn auftraten – ein Kongress, der sich mit gut 1000 Teilnehmenden gegenüber der letzten Ausgabe 2023 mehr als verdoppelt hat und aufgrund seiner prominenten Besetzung aus Wissenschaft, Verwaltung und Praxis mit an der Spitze der Bildungsveranstaltungen in Deutschland anzusiedeln ist.

Entsprechend vielfältig waren die Themen der dargebotenen Vorträge und Workshops: Der Schulleiter und Preisträger des Deutschen Lehrkräftepreises Micha Palesche gab Einblicke in seine Reformagenda („Die Welt außerhalb der Schule ist auch nicht in Fächer unterteilt“), die renommierte Bildungsforscherin Prof. Uta Hauk-Thum sprach über „Schultransformation in Zeiten disruptiver Veränderung“, der Mathe- und Physik-Lehrer Patrick Bronner (ebenfalls früherer Träger des Deutschen Lehrkräftepreises) berichtete über seine Erfahrungen mit „Projektbasiertem Arbeiten mit KI“ und Alexandra Braun von der gemeinnützigen Pacemaker Initiative verriet, wie sich der Gemeinschaftssinn in Kollegien stärken lässt – um nur einige Beispiele zu nennen.

Hinter der veranstaltenden aim steckt die Dieter Schwarz Stiftung, die in Heilbronn einen imposanten Bildungscampus aufgebaut hat (auf dem sich 16 Institutionen – von einer Erzieherakademie über das Science Center experimenta bis zu einer Dependace der TU München – tummeln). Dort, auf dem Bildungscampus, fand denn auch die Biko statt. Ein imposanter Ort, der durchaus als Symbol dafür stehen kann, dass sich für Bildung in Deutschland doch noch einiges bewegen lässt.

„Der heute 18-Jährige hat ein funktionierendes und verlässliches Deutschland nie kennengelernt“

Zurück zur Keynote. Was hat ein heute 18-Jähriger denn bislang erlebt, wollte Kurtenbach wissen, um die Frage selbst zu beantworten: Erst die Flüchtlingskrise 2015, die viele Schulen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte, dann Corona mit den Schulschließungen, anschließend der Krieg in der Ukraine (samt erneuter in den Schulen anbrandender Flüchtlingswelle) – und jetzt die Debatte über Wehrpflicht, bei der junge Menschen nicht zu Wort kämen. Vom jahrzehntelang geltenden Versprechen „Aufstieg durch Bildung“ sei wenig übriggeblieben. Kurz: „Der heute 18-Jährige hat ein funktionierendes und verlässliches Deutschland nie kennengelernt.“

Die deutsche Gesellschaft stecke in drei Schieflagen: einer demografischen („Es gibt doppelt so viele 60-Jährige wie Sechsjährige“), einer demokratischen („Bis Ende des Jahrzehnts ist die Mehrheit der Wahlberechtigten im Rentenalter“) und einer sozialstaatlichen – immer mehr Steuergeld müsse aufgewendet werden, um das Rentenniveau aufrecht zu erhalten. In dieser Situation leiste es sich Deutschland, jedes Jahr rund 50.000 Jugendliche ohne Abschluss in die Perspektivlosigkeit zu entlassen. Kurtenbach: „Das ist eine Katastrophe in der alternden Gesellschaft.“

Zusätzlich fatal: Solche Bildungsprobleme fallen kaum jemandem mehr auf. Als die erste PISA-Studie im Jahr 2000 erschien, löste sie einen breiten „Schock“ aus. Die jüngste PISA-Studie, noch desaströser, war nach drei Tagen aus den Schlagzeilen verschwunden. Kein Wunder, so Kurtenbach: Vor 25 Jahren waren Eltern noch die größte gesellschaftliche Gruppe. Heute sind sie eine Minderheit. „Bildungsprobleme werden behandelt wie Minderheitenprobleme“ – also im Zweifel ignoriert.

Dabei seien die Herausforderungen für die Bildungseinrichtungen enorm. Die Gesellschaft habe sich drastisch verändert – nicht allein durch Migration. „Es gibt heute nicht eine Kindheit, es gibt viele“, erklärte Kurtenbach. Familie, Lebensumfeld, Zugang zu Kultur und Sprache: Die jeweiligen Perspektiven der Jüngsten seien so unterschiedlich, dass mit dem Modell der Schule alter Prägung, die für alle die gleichen (mageren) Ressourcen vorsehe, nichts mehr zu gewinnen sei. Sie bringe nicht die Struktur mit, um den individuellen Bedürfnissen gerecht werden zu können. „Wir brauchen eine andere Haltung“, forderte der Politikwissenschaftler – nämlich eine, die vom Kind aus denke.

Doch wie soll das gehen, wenn Lehrkräfte schon jetzt damit überfordert sind, die Mindeststandards zu vermitteln? Die Lösung der Wissenschaftler: Schule sozialräumlich zu öffnen, sie zum „Mittelpunktsort“ einer Nachbarschaft zu machen, die sich nach Kräften um ihre Kinder kümmert. Vereine, Initiativen, sogar Arbeitsplätze für Elternteile, die im Homeoffice arbeiten, ließen sich dort ansiedeln. Dabei seinen „Großeltern ein unglaubliches Potenzial“. Denen sei nämlich nicht egal, wie es ihren Enkeln gehe. Und sie seien, Boomer eben, viele. Kurtenbach: „Wenn wir nur zehn Prozent von ihnen dazu bringen, sich ehrenamtlich für Schulen zu engagieren, dann sind das mehr Menschen als alles pädagogische Personal zusammen.“

Fast nahtlos fügte sich ein Vortrag von Prof. Anne Sliwka an, die darin gleichfalls das gesamte System in den Blick nahm. Der nicht minder ambitionierte Titel: „Paradigmenwechsel in der Bildung“. Spannend daran vor allem: die überzeugende Analyse, dass alle Bemühungen um bessere Bildungsleistungen Flickschusterei bleiben müssen, solange das große Ganze in der Betrachtung außen vor bleibt: das Schulsystem eben. Dieses müsse sich grundsätzlich wandeln – von einem verwaltenden hin zu einem lernenden. Wie das? Die Bildungsforscherin verwies darauf, dass alle Staaten, die bei PISA vor Deutschland lägen, vor allem datengestützt arbeiteten, um Probleme im Bildungssystem zu erkennen – und dann auch lösen zu können.

„Das Geld muss dahin fließen, wo das Problem ist“

PISA, IQB-Studie, Vera, IGLU: Auch in Deutschland würden zwar Leistungsdaten in Schulen erhoben. Sogar viele. Allerdings weitgehend sinnlos. Denn die Daten würden erhoben, ohne daraus Ziele abzuleiten – weshalb sich außer dem immer wiederkehrenden Befund „schlimm, schlimm“ praktisch nichts ändert. Maßnahmen würden von der Politik in Kraft gesetzt (Beispiel Sprach-Kitas) und dann wieder gestrichen, ohne dass das Ursprungsproblem einer Lösung nähergekommen sei. Von Strategie keine Spur.

Dabei gehe es vor allem darum, Ressourcen dorthin zu lenken, wo sie tatsächlich benötigt werden („Das Geld muss dahin fließen, wo das Problem ist“). Mitunter helfe es schon, Hindernisse anhand von Daten überhaupt erst einmal wahrzunehmen – und dann mit Betroffenen zu sprechen. Sliwkas Beispiel: Dass Jungen im Schnitt eine schlechtere Lesekompetenz in der Grundschule aufweisen als Mädchen, sei ein Befund, der vielfach durch Studien belegt sei. Wer dann Schüler befrage, warum sie nicht so gerne lesen, komme schnell darauf, dass ihnen offenbar zu selten in der Schule geeignete Inhalte angeboten würden („Was uns interessiert, kommt halt nicht.“). Hier liegt die Lösung auf der Hand.

Bei anderen Themen – etwa Schulabbruch – sind die Probleme deutlich komplexer und eben nicht durch den persönlichen Einsatz einzelner Lehrkräfte lösbar. Stünden den Kollegien (bestehend aus multiprofessionellen Teams) allerdings umfassende Daten ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verfügung und würden diese Daten durch professionelle Software nutzerfreundlich aufbereitet, ließen sich individuelle Warnzeichen leicht erkennen: Leistungseinbrüche in mehreren Fächern, familiäre Probleme, sozial auffälliges Verhalten. Dann ließe sich durch Intervention einer Vertrauensperson gegensteuern. „Das kann Schulabbruch verhindern. Wir müssen halt früh merken, wenn Handlungsbedarf besteht“, betonte Sliwka.

Und war damit sehr nah an Kurtenbachs Forderung, die Schule vom Kind aus zu denken. Andrej Priboschek

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