BONN. Schule geschafft – und dann? Schon zum Ende der Schulzeit steht die Frage im Raum: „Welcher Job, welche Ausbildung, welches Studium passt zu mir?“ Bei der Vielfalt an Möglichkeiten fehlt jungen Menschen allerdings oft die Orientierung. Muss Schule sie also besser auf ihren neuen Lebensabschnitt vorbereiten? Wenn ja, wie? Darüber spricht Moderator Andreas Bursche mit der jungen Bürgerrätin Levi Truong, Medizintechnik-Studentin in Dortmund, und Ingo Leven, Co-Autor der Shell Jugendstudie, in dieser Folge von „Bildung, bitte!“.
Im Zentrum der aktuellen Podcastfolge geht es um ein Gefühl, dass viele junge Menschen meist zum Ende ihrer Schullaufbahn belastet: Sie fühlen sich „lost“, das heißt verloren und nicht, wie es weitergeht. Moderator Andreas Bursche diskutiert darüber mit einer Betroffenen: Levi Truong ist 22 Jahre alt, studiert Medizintechnik in Dortmund und engagiert sich im Bürgerrat Bildung und Lernen der Montag Stiftung Denkwerkstatt. Dort erarbeitet sie im Austausch mit mehr als 700 Menschen Empfehlungen für die Politik, wie sich Bildung in Deutschland verbessern lässt.
„Ich wüsste nicht, wen ich wählen sollte. Ich fühle mich von allen sehr stark vernachlässigt.“
Levi Truong sagt von sich selbst, sie habe Glück gehabt, weil sie zumindest schon früh gewusst habe, welchen beruflichen Weg sie einschlagen wollte. Doch in vielen anderen Bereichen fühle sie sich selbst durchaus „lost“ und nicht gut auf das Leben nach der Schule vorbereitet: Der Übergang von der Schule zur Universität sei schwierig gewesen: „Vor allem dieses Selbstständige-Lernen, das in der Uni gefragt ist, das haben wir so in der Schule nie kennengelernt, obwohl das Gymnasium von sich immer behauptet hat, uns auf das Studium vorzubereiten. Aber vorbereitet habe ich mich nicht gefühlt.“ Was nach dem Studium komme, sei ebenfalls noch unklar.
Auch politisch empfindet sich die junge Studentin als orientierungslos: „Ich wüsste nicht, wen ich wählen sollte. Ich fühle mich von allen sehr stark vernachlässigt.“ Sie hat das Gefühl, dass ihre Generation nicht gehört und politisch nicht repräsentiert wird. Dies sei eine weitverbreitete Wahrnehmung Jugendlichen.
Diplompsychologe Ingo Leven, der seit über 20 Jahren an der Shell-Jugendstudie mitarbeitet, ordnet Levis Erfahrungen wissenschaftlich ein. „Das, was Levi beschreibt, ist charakteristisch für die junge Generation.“ Junge Menschen seien oft erst einmal damit beschäftigt, ihre unmittelbaren Bildungs- und Berufswege zu navigieren. Zu dieser Orientierung gehöre auch herauszufinden, wer in der Politik die eigenen Interessen repräsentiere. Das zeichne junge Menschen aus und sei kein neues Phänomen.
Trotzdem wünscht sich Levi Truong, mehr Unterstützung für die junge Generation und mahnt: „Man möchte ja seinen Platz in der Gesellschaft finden. Wer aber seinen Platz in der Gesellschaft nicht findet, fühlt sich ausgeschlossen, könnte zum Beispiel radikalisiert werden oder ist einfach leichter zu beeinflussen.“ Aus ihrer Sicht könne die Berufswahl dabei helfen. Doch viele junge Menschen wüssten gar nicht, welche Möglichkeiten es gebe. Die wenigen Praktika oder Schnuppertage, die zu Schulzeiten vorgesehen seien, reichten nicht aus, um eine fundierte Entscheidung zu treffen.
Verunsicherung bei der Berufswahl
Eine weitere Schwierigkeit bei der Berufswahl laut Ingo Leven bilde das Gefühl, eine einmal getroffene Entscheidung nicht mehr revidieren zu können. Das sei seine Erfahrung aus den Gesprächen mit Jugendlichen im Rahmen der Befragungen für die Shell-Jugendstudie. Er erinnert sich an einen Fall vor zehn Jahren, in dem sich ein Jugendlicher zynisch für den „Blumenstrauß an Möglichkeiten“ bedankte und das Dilemma bildlich beschrieb: „Ich sehe so viele Blumen, die für mich infrage kommen, aber ich habe das Gefühl, dass ich mich für eine Blume entscheiden muss – und dann muss die eine auch die Richtige sein. Weil, wenn ich feststellen sollte, dass diese Blume doch nicht ganz meins ist, und ich würde sie zurückbringen wollen, wäre der Strauß in der Zwischenzeit verwelkt.“
Dieses Gefühl kennt auch Bürgerrätin Truong nur zu gut; erst durch ihre ehrenamtliche Arbeit und die Ausbildung zur Rettungssanitäterin beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) habe sich diese Wahrnehmung verändert. „In der Rettungsdienstschule habe ich echt viele verschiedene Menschen kennengelernt, die vorher was anderes gemacht hatten. […] Menschen, Ende 30, Anfang 40, die die Berufsausbildung zum Notfallsanitäter machen, weil sie sagen, das macht mir mehr Spaß als der Beruf, für den ich studiert habe.“ Diese Vorbilder hätten ihr gezeigt, dass Umwege im Berufsleben möglich seien.
„Das Leben in die Schule zu bringen, ist zentral“
Im Rahmen der Shell-Jugendstudie zeige sich, dass viele junge Menschen erst in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts das Gefühl bekommen, zu wissen, wo sie hin wollen, erklärt Diplompsychologe Leven. Die Verantwortung, Orientierung zu finden, sieht er zweigeteilt. Einerseits sei die junge Generation aufgefordert, sich selbst ein Bild zu machen. „Wenn das dann bedeutet, in zehn, 15 Jahren festzustellen, der gewählte Pfad ist nicht mehr der richtige, ist das genauso legitim, wie zu sagen, ich wusste schon mit 16, wo ich hin will, und da bin ich angekommen.“ Andererseits verweist er auch auf die Schulen. Nicht nur die Angebote der schulischen Berufsorientierung seien entscheidend, sondern auch die Werkzeuge, die die Schulen jungen Menschen an die Hand geben, um weitreichende Entscheidungen treffen zu können.
Gefragt nach ihren Forderungen, wie sich Schule ändern müsse, damit sich die jungen Menschen weniger verloren fühlten, verweist Ingo Leven auf die Lehrpläne. Diese müssten lebensnäher gestaltet werden: „Das lässt sich auch anhand der Jugendstudie wunderbar ableiten.“ 90 Prozent der Jugendlichen wünschten sich etwa das Thema „Fake News“ als Unterrichtsinhalt. „Das Leben in die Schule zu bringen, ist zentral, und dann sollte auch die Berufsorientierung einen deutlich größeren Stellenwert einnehmen.“ Ähnlich fällt die Antwort von Levi Truong aus; sie fordert, dass sich der Bildungsplan deutlich mehr mit den Schülern selbst befassen müsse. Gleichzeitig müsse er aber an anderer Stelle entschlackt werden, damit Kinder nicht „irgendwann anfangen, 50, 60 Stunden in der Schule zu sitzen“.
„Die Anforderungen an Lehrende sollten verändert werden.“
Außerdem plädiert die Studentin dafür, das Lehramtsstudium umzustrukturieren, um es attraktiver zu gestalten. „Ich finde eine Art duales Studium deutlich besser und auch die Anforderungen an Lehrende sollten verändert werden.“ Aus ihrer Sicht sollte ein Mathematiklehrer beispielsweise kein vollständiges Mathematikstudium ablegen müssen. Denn: „Wir können uns ja viel wünschen, wie sich Schule und Bildung verändern sollten, aber wenn wir keine Lehrpersonen haben, die sich darum kümmern, dass die nächste Generation richtig unterrichtet wird und vor allem Lehrpersonen haben, denen das wichtig ist, was aus ihren Schülern wird, dann haben wir sowieso an jeder Stelle versagt, dann funktioniert das gar nicht erst.“ News4teachers
Der Bürgerrat Bildung und Lernen besteht aus mehr als 700 zufällig ausgelosten Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland und wurde 2020 von der Montag Stiftung Denkwerkstatt ins Leben gerufen. Sie hat auch den vorliegenden Podcast bereitgestellt.
Im Sinne einer lebendigen Demokratie diskutieren die Mitglieder des Bürgerrats gemeinsam über gesellschaftliche und bildungspolitische Fragen. Welche Probleme und Herausforderungen müssen im Bildungsbereich dringend bearbeitet werden? Wie könnten bildungspolitische Reformen aussehen, die Probleme lösen und gleichzeitig in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind? Und: Wie soll gerechte Bildung in Zukunft aussehen?
Ein umfassendes Papier mit Empfehlungen wurde unlängst erarbeitet (News4teachers berichtete). Leitthema dabei: „Chancengerechtigkeit: Wie viel Freiheit braucht das Lernen?“
Der Bürgerrat Bildung und Lernen ist aktuell der einzige Bürgerrat, der auf Bundesebene aktiv ist und auch Kinder und Jugendliche einbezieht. Die mehr als 250 Schülerinnen und Schüler kommen über sogenannte Schulwerkstätten der Bundesländer dazu und sind vollwertige Mitglieder des Bürgerrats Bildung Lernen. Darüber hinaus haben sie aber auch eigene Empfehlungen entwickelt sowie einen offenen Brief unter dem Titel „Hört und zu!“ geschrieben.
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