MÜNCHEN. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das zeigt sich auch in der Zusammensetzung von Schulklassen. Diese Vielfalt kann bereichern – oder zu scharf getrennten Lagern führen, mit Folgen für den sozialen Zusammenhalt, mahnen Forscher:innen auf Basis einer aktuellen Studie. Entscheidend demnach: die Zusammensetzung der Klassen.
Stehen sich in Schulklassen zwei gleich große Gruppen von Schüler:innen gegenüber, die sich in einem bedeutenden kulturellen Aspekt voneinander unterscheiden, leidet der soziale Zusammenhalt. Darauf verweist ein groß angelegtes Feldexperiment an deutschen Schulen, dessen Ergebnisse nun im „ifo-Schnelldienst“ veröffentlicht wurden.
„Ob kulturelle Vielfalt in Schulklassen den sozialen Zusammenhalt stärkt, hängt entscheidend von der Form der Diversität ab“, sagt Helmut Rainer, Leiter des ifo-Zentrums für Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsökonomik des ifo-Instituts – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München. Im Rahmen der Studie untersuchte Rainer gemeinsam mit weiteren Wissenschaftler*innen, wie die Zusammensetzung einer Klasse die Bereitschaft zur Kooperation zwischen Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund beeinflusst.
Studie umfasst Umfrage und Feldexperiment
Für die Studie kombinierte das Forschungsteam zwei methodischen Ansätze: eine Umfrage und ein Experiment. An 57 deutschen befragten die Forschenden Schüler:innen im letzten verpflichtenden Schuljahr, also der 9. und 10. Jahrgangsstufe. Im Durchschnitt waren die 4.214 Jugendlichen 15 bis 16 Jahre alt. Diese Umfragen verknüpften sie mit einem »Labor im-Feld«-Experiment, das als sogenanntes »Vertrauensspiel« bekannt ist. Mit diesem analysierten sie, wie deutsche Lernende mit anderen deutschen Schüler:innen beziehungsweise mit Lernenden mit Migrationshintergrund zusammenarbeiten.
Im Rahmen des Experiments teilten die Forschenden die Klassen in zwei Gruppen auf, Sender:innen und Empfänger:innen. Jede Senderin erhielt daraufhin einen festgelegten Geldbetrag und sollte anschließend entscheiden, wie viel sie davon an die jeweilige Empfängerin überweisen will. Dieser Betrag wurde verdreifacht und die Empfängerin musste nun wiederum festlegen, wie viel Geld sie zurücküberweisen will. „Der Schlüssel zu dem Experiment besteht darin, dass jeder Teilnehmer gefragt wird, wie er spielen würde, wenn er mit einem deutschen Schüler und einem Migranten zusammen kommt, die beide für den Teilnehmer anonym sind“, heißt es im Ergebnisbericht. Von dem Unterschied in der Höhe der jeweils überwiesenen Beträge lasse sich auf eine bestehende Voreingenommenheit schließen.
Viele kleinere Herkunftsgruppen führen zu mehr Vertrauen untereinander
Ein Ergebnis: Vertrauen und Kooperationsbereitschaft sind besonders hoch, wenn es in einer Klasse viele kleinere Herkunftsgruppen gibt, oder wenn die klare Mehrheit keinen Migrationshintergrund hat. „Für den sozialen Zusammenhalt ist entscheidend, dass in Klassenzimmern keine zwei kulturellen Fronten entstehen“, sagt Rainer. Die stärksten systematischen Unterschiede in der Kooperationsbereitschaft zeigten sich nämlich in Klassenzimmern, in denen zwei große Gruppen mit ausgeprägter kultureller Distanz aufeinandertreffen. Als Indikator für kulturelle Distanz galt dabei die Religionszugehörigkeit, unterschieden zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Schüler:innen. Besonders deutlich zeigten die Schüler:innen Vorbehalte gegen Mitschüler:innen der anderen Gruppe, „wenn eine knappe Mehrheit einheimischer Schülerinnen und Schüler einer nahezu ebenso großen Gruppe muslimischer Mitschülerinnen und Mitschüler“ gegenüberstand, so die Autor:innen.
Dagegen fiel diese Gruppenbezogenheit bei anderen Formen von Diversität deutlich geringer aus. Weniger Vorbehalte zeigten deutsche Schüler:innen beispielsweise in Klassen, in denen sie zwar nur eine knappe Mehrheit stellten, ihre Mitschüler:innen mit Migrationshintergrund allerdings nicht-muslimisch waren. Ähnlich verhielt es sich in Klassen, die Einheimische, muslimische und nicht-muslimische Migrant:innen in ähnlicher Gruppengröße besuchten sowie in Klassen, in denen Einheimische die klare Mehrheit stellten.
Sich gegenseitig verstärkende Mechanismen
„Die Analyse zeigt, dass kulturell polarisierte Klassen weniger Kooperation aufweisen“, heißt es im Ergebnisbericht. Einer der Gründe laut den Autor:innen: In solchen Klassen seien die positiven Interaktionen zwischen einheimischen und migrantischen Schüler:innen begrenzt. Sie schlössen seltener Freundschaft und innerhalb der Klasse entstehe keine gemeinsame Identität. Die deutschen Schüler:innen zeigten unter diesen Bedingungen stärkere Vorurteile gegenüber Migrant:innen im Allgemeinen und negative Einstellungen gegenüber Migration. „Deutsche Schülerinnen und Schüler bevorzugen den Kontakt mit anderen Einheimischen, wodurch die Bereitschaft zur Kooperation mit Migrantinnen und Migranten weiter sinkt. Diese beiden Mechanismen verstärken sich gegenseitig und führen dazu, dass kulturelle Polarisierung in Schulklassen die Integration und den sozialen Zusammenhalt erheblich erschweren kann.“
Anregungen für die Praxis
Die Studienautor:innen empfehlen, in kulturell polarisierten Schulklassen gezielte Maßnahmen zu ergreifen, um Vertrauen und Kooperation zu stärken. „Eine Möglichkeit wäre es, Lehrpläne stärker auf Inklusion auszurichten und interkulturelle Kompetenzen stärker zu fördern“, sagt Rainer. „Auch organisatorische Maßnahmen wie eine zufällige Sitzplatzvergabe könnten helfen, Gruppenstrukturen innerhalb der Klasse aufzubrechen und interkulturelle Freundschaften zu erleichtern.“ News4teachers
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